Im Rathaus Pankow werden Stimmen zur Wahl für das Abgeordnetenhaus Berlin ausgezählt.
FAQ

Entscheidung des Verfassungsgerichts Was die Wahlwiederholung in Berlin bedeutet

Stand: 16.11.2022 16:47 Uhr

Zu viele Pannen - die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus soll insgesamt wiederholt werden. Ist das schon das letzte Wort? Und was bedeutet das für die Bundestagswahl, die zeitgleich stattgefunden hat?

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion und Claudia Kornmeier, SWR

Mit großer Spannung haben Politik und Bevölkerung auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs geschaut. Überraschend ist das Ergebnis letztlich nicht mehr: Die von zahlreichen Pannen geprägte Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus muss komplett wiederholt werden. Die Abstimmung vom September 2021 sei ungültig, verkündete der Berliner Verfassungsgerichtshof.

Wie hat der Verfassungsgerichtshof sein Urteil begründet?

Aus Sicht des Gerichtshofs sind die Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt. Schon die Vorbereitung der Wahlen habe nicht den Anforderungen genügt und sei für sich genommen ein Wahlfehler, der weitere erhebliche Wahlfehler nach sich gezogen habe.

Folge der mangelhaften Vorbereitung seien etwa stundenlange Wartezeiten und Schließungen während der Wahlzeit gewesen. Der Gerichtshof bemängelte außerdem eine "flächendecke" Öffnung der Wahllokale nach 18 Uhr, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon erste Prognosen veröffentlicht worden waren und sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen abgezeichnet hatte.

Es stehe fest, dass nicht nur einzelne, sondern Tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme "nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst" abgeben konnten.

Diese Wahlfehler seien auch "mandatsrelevant". Mandatsrelevanz bedeutet, dass sich ein Wahlfehler auf das Ergebnis ausgewirkt hat. Der Gerichtshof geht davon aus, dass "mindestens 20.000 bis 30.000 Stimmen" von Wahlfehlern betroffen sind". Und in einigen Wahlkreisen hätten schon dreistellige Zahlen anders abgegebener Stimmen ausgereicht, um die Sitzverteilung zu verändern.

Warum muss die Wahl im Ganzen wiederholt werden?

Der Verfassungsgerichtshof ist überzeugt davon, dass verfassungsrechtliche Standards nur gewährleistet werden können, indem die Berliner Wahl komplett für ungültig erklärt wird. "Eine nur punktuelle Wahlwiederholung in einzelnen Wahlkreisen wäre angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler nicht geeignet, einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen."

Eine punktuelle Wahlwiederholung widerspräche außerdem dem Grundsatz, dass das Gesamtergebnis einer Wahl eine einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen solle. Das Gesamtergebnis der Wahl verlöre seinen Charakter als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. "Ferner würde eine teilweise Wiederholung der Wahl zu einer unangemessen großen Gestaltungsmacht einer Minderheit der Wahlberechtigten führen, denn diese Wählenden könnten ihre Wahlentscheidung an den politischen Geschehnissen seit der Wahl vollständig neu ausrichten."

Waren sich die Richter in allen Punkten einig?

Nein. Die Entscheidung wurde mit einer Mehrheit von sieben zu zwei Stimmen getroffen. Eine Richterin veröffentlichte eine abweichende Meinung. Aus ihrer Sicht hat die Mehrheit nicht ausreichend begründet, warum die Wahl vollständig für ungültig erklärt wurde.

Kann das Bundesverfassungsgericht das Urteil überprüfen?

Bei einer Gerichtsentscheidung hat man ja in der Regel die Erwartung, dass es dagegen ein Rechtsmittel gibt. Die Verfassungsgerichte der Bundesländer sind aber abschließend dafür zuständig, Landtagswahlen zu überprüfen. Ein Rechtsmittel zum Bundesverfassungsgericht gegen die Wahlprüfung im Land ist nicht vorgesehen. Verfahrensbeteiligte könnten versuchen, über eine Art Umweg die Berliner Entscheidung in Karlsruhe anzugreifen. Zum Beispiel mit dem Argument, der Berliner Verfassungsgerichtshof habe es unterlassen, das Verfahren in Karlsruhe vorzulegen, weil es von den bisherigen Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlprüfung abweicht. Die Erfolgschancen dürften aber eher gering sein.

"Das ist nicht das letzte Wort", Frank Bräutigam, SWR, zu Entscheidung für Wahlwiederholung in Berlin

Mittagsmagazin 13:00 Uhr

Eine Beschwerde in Karlsruhe würde die Neuwahlen auch nicht automatisch auf Eis legen. Dafür wäre eine einstweilige Anordnung im Eilverfahren nötig. Die Hürden dafür sind ebenfalls sehr hoch. Die Senatsverwaltung hat bereits angekündigt, diese Schritte nicht zu gehen.

Sind jetzt alle Entscheidungen des Abgeordnetenhauses seit der Wahl nichtig?

Nein. "Alle bis zur Verkündung der Ungültigkeit erlassenen Rechtsakte des Abgeordnetenhauses bleiben nach dem heutigen Urteilsspruch wirksam", erklärt der Verfassungsgerichtshof. Das Abgeordnetenhaus sei außerdem bis zum Abschluss der Wiederholungswahl weiter berechtigt, seine Aufgaben wahrzunehmen.

Gab es ein vergleichbares ein Urteil schon einmal?

Ja, 1993 in Hamburg. Kandidaten der CDU für die Bürgerschaftswahl von 1991 waren aus Sicht des Hamburgischen Verfassungsgerichts undemokratisch aufgestellt worden. Wegen "der hohen Wahrscheinlichkeit einer Mandatsrelevanz" wurden "die fehlerhaften Wahlen" insgesamt für ungültig erklärt.

Verwaltungs-Chaos in Berlin: Wiederholung der Regionalwahlen

Markus Reher, RBB, tagesthemen, tagesthemen, 16.11.2022 22:15 Uhr

Wer überprüft mögliche Fehler bei der Bundestagswahl in Berlin?

Am Ende das Bundesverfassungsgericht. Wichtig ist: Die Überprüfung der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und die Bundestagswahl sind vom Verfahren her zwei unterschiedliche Baustellen; auch wenn am selben Tag gewählt wurde.

Für die Wahl in Berlin ist der Verfassungsgerichtshof des Landes zuständig. Die Wahlprüfung zum Bundestag findet in zwei Stufen statt. Erst überprüft der Bundestag. Er hat am 10. November eine erneute Wahl in 431 Berliner Wahllokalen beschlossen. Das ist aber nicht das letzte Wort zur Bundestagswahl in Berlin. Diese Entscheidung kann anschließend vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden.

Dass es dazu kommt, ist sehr wahrscheinlich. In der Vergangenheit haben Wahlprüfungsverfahren in Karlsruhe oft sehr lange gedauert. Weil es hier aber recht konkret um die Frage (teilweiser) Neuwahlen geht, ist der Zeitdruck deutlich höher als sonst.

Kann bei der Überprüfung der Bundestagswahl für Berlin ein anderes Ergebnis herauskommen?

Das ist möglich, aber nach jetzigem Stand völlig offen. Auch im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof waren die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Wahlprüfung ein großes Thema. Immer wieder wurde auf die zahlreichen Urteile dazu verwiesen. Dort war bislang die klare Tendenz, dass auch relevante Wahlfehler in aller Regel nicht dazu führen, dass teilweise oder ganz neu gewählt werden muss. Die Bestandskraft einer Wahl hängt Karlsruhe traditionell sehr hoch.

Allerdings: Daraus kann man nicht automatisch schließen, wie das Gericht zur Bundestagswahl in Berlin entscheiden wird. Denn einen vergleichbaren Fall hatte Karlsruhe noch nie vorliegen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. November 2022 um 18:10 Uhr.