Ausbildung ukrainischer Soldaten am Patriot-Flugabwehrraketensystem an einem unbenannten Ort
analyse

Einsatz gegen Ziele in Russland Wie es zum Kurswechsel der Bundesregierung kam

Stand: 31.05.2024 16:18 Uhr

Aus Deutschland gelieferte Waffen für Angriffe auf Ziele in Russland - das war für die Ukraine lange tabu. Angesichts der aktuellen Entwicklungen an der Front gibt es nun einen Kurswechsel. Wie kam es dazu?

Eine Analyse von Uli Hauck, ARD-Hauptstadtstudio

Wie schon häufiger während des über zwei Jahre andauernden russischen Angriffskrieges auf die Ukraine handelt die Bundesregierung gemeinsam mit den Partnern. Und wie so oft marschierten die Partner dabei mal wieder nicht im Gleichschritt.

Großbritannien und Frankreich haben schon länger die Auffassung vertreten, dass ihre gelieferten Waffen auch auf russischem Gebiet gegen Militärstellungen zum Einsatz kommen sollen.

Diese Haltung machte erst am Dienstag der französische Präsident Emmanuel Macron bei den deutsch-französischen Regierungskonsultationen klar: "Die Basen sind in Russland, von dort aus wird die Ukraine attackiert. Wie wollen sie den Ukrainern erklären, dass sie nicht das Recht haben, den Punkt anzugreifen, von dem sie beschossen werden. Das hieße, wir liefern euch Waffen, aber ihr dürft euch damit nicht verteidigen."

Zu diesem Zeitpunkt hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch etwas unklar mit dem Völkerrecht argumentiert, ohne bei der Frage nach dem Einsatz deutscher Kriegswaffen auf russischem Gebiet wirklich konkret zu werden.

Warten auf die USA

Die Regierung wartete offensichtlich ab, wollte sich vor einer Entscheidung gemeinsam mit Franzosen, Briten und vor allem US-Amerikanern abstimmen. Und dabei kam es dem Bundeskanzler wohl vor allem auch auf die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden an. Ihn wollte die Regierung offenbar nicht öffentlich noch zusätzlich unter Druck setzen.

Christian Mölling, Leiter Zentrum für Sicherheit und Verteidigung DGAP, mit Einschätzungen zu deutschen Waffen auf russischem Gebiet

tagesthemen, 31.05.2024 21:45 Uhr

Am Ende hat sich Deutschland dann der US-amerikanischen Position angeschlossen: Angriffe auf russisches Gebiet ja, aber nur zur Verteidigung der Region Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine ist beinahe täglich Ziel von Angriffen, die hauptsächlich von russischem Territorium ausgehen. Nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Hebestreit hat "Russland im Raum Charkiw von Stellungen aus dem unmittelbar angrenzenden russischen Grenzgebiet heraus Angriffe vorbereitet, koordiniert und ausgeführt". Dagegen sollen sich die Ukrainer wehren können.

Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Wie weit die USA die Ukrainer bei diesem Verteidigungskampf agieren lassen, lässt sich aus den aktuellen Aussagen nicht abschließend beurteilen. Es gibt wohl bewusst viel Interpretationsspielraum.

Verteidigungsminister Boris Pistorius nennt die Entscheidung "richtig", man habe die eigene Strategie an die Lage angepasst. Übrigens nicht zum ersten Mal. Denn bereits, als es um die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine ging, ließ der Kanzler den großen Partner USA den Takt angeben, wohl auch damit Deutschland nicht als der Treiber der internationalen Ukraine-Unterstützung angesehen wird.

"Der Druck auf die Bundesrepublik Deutschland war einfach zu groß", Stephan Stuchlik, ARD Berlin, zum Einsatz deutscher Waffen auf russischem Gebiet durch die Ukraine

tagesschau24, 31.05.2024 15:00 Uhr

Ein weiterer Grund, sich mit den USA abzustimmen, war sicherlich auch der Umstand, dass beispielsweise gelieferte Raketenwerfer aus Bundeswehrbeständen mit US-amerikanischer und nicht mit deutscher Munition bestückt werden.

Welche deutschen Waffensysteme infrage kommen

Die Entscheidung, deutsche Waffen auf russischem Gebiet einzusetzen, umfasst alle Systeme, die Deutschland an die Ukraine geliefert hat. Das stellte Pistorius bei einem Besuch in Moldau klar. Er signalisierte - ähnlich wie Außenministerin Baerbock - schon länger eine gewisse Offenheit, die Waffenbeschränkungen für die Ukraine aufzuheben.

In der Praxis kommt es aber darauf an, ob die Ukraine diese von Deutschland gelieferten Waffensysteme aktuell überhaupt zur Verfügung hat oder ob sie an anderer Stelle an der Front im Einsatz sind. Außerdem sollte es - aus ukrainischer Sicht - wohl abgewogen sein, ob man beispielsweise die wenigen Flugabwehrsysteme, die man hat, ausgerechnet im ukrainisch-russischen Grenzgebiet einsetzt.

Denkbar wäre beispielsweise der Einsatz von Raketenwerfern vom Typ "Mars II", der "Panzerhaubitze 2000" und des Flugabwehrsystems "Patriot". Mit "Patriots" könnte die Ukraine theoretisch auch russische Flugzeuge abschießen, die aus dem russischen Luftraum heraus mit Raketen oder Gleitbomben Ziele in der Region Charkiw angreifen. Aktuell werden sie dort aber offenbar nicht eingesetzt.

Und auch Panzerhaubitze und Raketenwerfer seien aktuell im Süden im Einsatz, sagt der Militärexperte Gustav Gressel gegenüber dem Bayerischen Rundfunk. Auch wenn jetzt klar ist, dass die Ukraine westliche Artillerie und Raketen beschränkt auf russisches Gebiet feuern darf, lässt sich aktuell schwer abschätzen, ob und wie viele deutsche Waffen dabei tatsächlich zum Einsatz kommen. Zumal Deutschland auch keine Marschflugkörper und Raketen von größerer Reichweite liefert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 31. Mai 2024 um 15:00 Uhr.