Historisches Verfahren Urteil in Stasi-Mordprozess erwartet
Ein polnischer Staatsbürger wurde 1974 erschossen, als er die DDR am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße verlassen wollte. Im historischen Mordprozess gegen einen früheren Stasi-Mitarbeiter wird jetzt das Urteil erwartet.
Die Akten im Fall des erschossenen Czeslaw Kukuczka enthalten seit Jahrzehnten auch einen Artikel aus der Bild-Zeitung. Die hatte 1974 als erste über den Mordfall berichtet. Das ist durchaus sinnbildlich. Denn er ist tatsächlich spektakulär, dieser besondere Kriminalfall der deutsch-deutschen Geschichte.
Schüsse im Bahnhof Friedrichstraße
Am 29. März 1974 hatte der polnische Staatsbürger Kukuczka alles auf eine Karte gesetzt. Er wollte über Berlin in den Westen kommen. Sein Ziel: wahrscheinlich die USA, wo zwei seiner Tanten lebten. Kukuczka suchte die polnische Botschaft in Ostberlin auf, wo er mit der Behauptung, er habe eine Bombe in seiner Aktentasche, seine Ausreise erzwingen wollte. Später stellte sich heraus, in der Tasche befanden sich nur eine Whiskey-Flasche und ein alter Rasierer.
Die von den Polen alarmierte Staatssicherheit ging zum Schein auf seine Drohung ein. Ausreisepapiere wurden ausgestellt und Kukuczka zum Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße eskortiert. Dort konnte er alle Grenzkontrollen in der Ausreisehalle, dem sogenannten "Tränenpalast", passieren. Hinter der letzten Kontrollstelle, als Kukuczka in den Durchgang zum Bahnsteig Richtung Westen ging, wurde er erschossen, aus nächster Nähe mit mehreren Schüssen in den Rücken.
Schülerinnen aus dem Westen waren Zeugen
Schülerinnen aus Westdeutschland mussten die Tat mit ansehen. Sie waren mit ihrem Lehrer auf Studienreise in Berlin und hatten Ostberlin besucht. Als sie über den Bahnhof Friedrichstraße zurück in den Westen fahren wollten, stand Kukuczak in der Schlange erst hinter ihnen, dann wurde er von den Grenzbeamten vorgelassen. Im Prozess vor dem Landgericht Berlin hatten zwei der ehemaligen Schülerinnen ausgesagt.
Sie sind heute um die 65 Jahre alt, erinnerten sich aber sehr genau an die Tat. Übereinstimmend sagten sie aus: Ein Mann in dunklem Mantel, mit getönter Brille und Pistole in der Hand, sei plötzlich hinter Kukuczka aufgetaucht, als dieser den letzten Grenzposten passiert hatte und ohne sich umzudrehen Richtung Bahnsteig gegangen war. Dann seien Schüsse gefallen und Kukuczka sei zusammengebrochen.
Seine Reisetasche sei über den Boden geschlittert, die Türen zur Unterführung seien geschlossen und Sichtblenden vor den Tatort geschoben worden. "Da müssen viele Hände zusammengespielt haben", meinte eine der Zeuginnen vor Gericht.
Schwierige Beweislage
Die Staatsanwaltschaft Berlin ist überzeugt, dass Manfred N. der Täter von damals ist. Der heute 80-Jährige war Stasi-Offizier und lebt heute offenbar ein bürgerliches Leben in der Nähe von Leipzig. Er soll am 29. März 1974 Teil des Stasi-Kommandos gewesen sein, das vom stellvertretenden Stasi-Minister Bruno Beater den Befehl bekommen hatte, Kukuczak zur Grenze zu bringen und ihn "unschädlich" zu machen.
Am Ende der Befehlskette soll Manfred N. die Schüsse auf Kukuczak abgegeben haben. Das zu beweisen, ist 50 Jahre nach der mutmaßlichen Tat allerdings sehr schwierig. Die Zeugenaussagen der ehemaligen Schülerinnen aus Bad Hersfeld können nur den Ablauf der Tat bezeugen.
Manfred N. bestreitet die Vorwürfe gegen ihn und machte im Prozess keine Aussage. Für die Frage, ob er der Stasi-Mörder vom Bahnhof Friedrichstraße war, kommt es daher auf historische Akten aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv an.
Ein Prozess mit langer Vorgeschichte
Dreimal wurden seit 1974 Ermittlungen im Fall des Mordes am Grenzübergang Friedrichstraße aufgenommen. Immer erfolglos. 2016 dann wurden im Stasi-Unterlagen-Archiv Dokumente entdeckt, die vorher nicht zugänglich waren. Wahrscheinlich handelt es sich auch um Dokumente, die von der Stasi einst geschreddert worden sind und in den vergangenen Jahren wie ein Puzzle mühsam wieder zusammengesetzt wurden.
Zwei Stasi-Dokumente, auf die sich die Anklage stützt, sind besonders wichtig. Da ist einmal ein interner Bericht des Stasi-Oberst Willi Damm. Er leitete die Aktion gegen Kukuczak, nachdem der in der polnischen Botschaft erschienen war. Und dann ist da noch ein "Befehl" des Stasi-Ministers Erich Mielke. Er ordnete damals an, allen zwölf an der Aktion beteiligten Stasi-Männern den Kampforden "Für Verdienste um Volk und Vaterland" zu verleihen, mal in "Gold, Silber oder Bronze." Auch der jetzt angeklagte Manfred N. hatte einen solchen Orden bekommen.
Erst Totschlag, jetzt Mord
Endgültig ins Rollen kam das Strafverfahren gegen ihn, als polnische Staatsanwälte seine Auslieferung nach Polen beantragten. Das für die Auslieferung zuständige OLG Dresden fragte 2022 bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Berlin an, ob man den Mordverdacht gegen Manfred N. nicht doch noch einmal prüfen müsse und die Staatsanwaltschaft Berlin änderte daraufhin ihre Ansicht über den Fall.
Bisher waren die Berliner Ermittler immer von einem Totschlag ausgegangen, der jedoch verjährt wäre. Weil Kukuczak aber mutmaßlich hinterhältig in den Rücken geschossen wurde, geht die Staatsanwaltschaft nun von heimtückischem Mord aus. Und Mord verjährt nicht.
Stasi-Akten belasten den Angeklagten
Einige Stasi-Unterlagen wurden in der Verhandlung vor dem Landgericht Berlin ausdrücklich zitiert. So der Bericht des inzwischen verstorbenen Stasi-Oberst Willi Damm. Der hielt am Tag der Aktion fest, dass der stellvertretende Stasi-Minister Bruno Beater die Entscheidung getroffen habe, Kukuczak "nach Möglichkeit außerhalb des Gebäudes der Botschaft der Volksrepublik Polen unschädlich zu machen."
Auch das Ergebnis der Aktion am Grenzübergang Friedrichstraße notierte er: "Während des Abfertigungsprozesses gelang es, ohne besonderes Aufsehen gegenüber anderen Ausreisenden durch die eingesetzten Kräfte den polnischen Bürger unschädlich zu machen." Ein Schriftstück dürfte für Manfred N. besonders belastend sein. Sein Stasi-Vorgesetzter Beater schlug ihn für eine Auszeichnung vor.
In dem Dokument steht der Satz: "Genosse Oberleutnant N. erhielt am 29.03.1974 den persönlichen Auftrag, einen terroristischen Angriff auf die Staatsgrenze der DDR abzuwehren. Genosse Oberleutnant N. löste umsichtig, mutig und entschlossen diese Aufgabe und konnte den Terroristen durch Anwendung der Schusswaffe unschädlich machen."
Die Schlussplädoyers vor dem Landgericht Berlin
Diese Stellen zitierte Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster in seinem Schlussplädoyer. Hans-Jürgen Förster vertritt die Tochter des getöteten Kukuczak, die in dem Verfahren als Nebenklägerin auftritt. Er betonte in seiner Stellungnahme, dass vor dem Landgericht Berlin gewissermaßen ein "Urkundenprozess" geführt worden sei.
Ihm sei es wichtig gewesen, die betreffenden Stasi-Akten über die Aktion gegen Kukuczak öffentlich bekannt zu machen. Immerhin gehe es um ein Strafverfahren von "herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung", das auch extra vom Gericht für die Nachwelt aufgezeichnet wurde.
Verteidigung bestreitet Mordvorwürfe
Die Verteidigerin von Manfred N. bestritt in ihrem Plädoyer, dass man ihrem Mandanten die Täterschaft an einem Mord nachweisen könne. Ein Mord könne die Tat gegen Kukuczak nur gewesen sein, wenn sie heimtückisch begangen wurde. Heimtücke im Sinne des Strafrechts setze aber nicht nur einen Schuss aus dem Hinterhalt, sondern auch die Arglosigkeit des Opfers voraus. Bei seinem Ausreiseversuch sei Kukuczak aber nicht arglos gewesen. Arglos sei nur, wer überhaupt nicht mit einem tätlichen Angriff gegen sich rechnet.
Nebenkläger-Vertreter Hans-Jürgen Förster argumentierte hingegen: Kukuczak habe ungehindert alle vorgesehenen Kontrollstellen des DDR-Grenzregimes passieren können. Er habe nach dem letzten Kontrollpunkt nicht mehr erwarten müssen, dass die Grenzbeamten eingreifen. Deshalb sei er arglos gewesen. Das habe die Stasi auch bewusst für ihre Aktion ausgenutzt. An deren Ende habe der Angeklagte Manfred N. den tödlichen Schuss in den Rücken von Kukuczak abgegeben.
Welches Urteil ist zu erwarten?
Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster betonte, dass ihm bisher keine rechtskräftige Verurteilung eines Stasi-Mitarbeiters als Haupttäter eines vollendeten Mordes bekannt sei, auch das mache den Fall historisch. Ob es zu einem Mordurteil gegen Manfred N. kommt, ist aber vollkommen offen.
Wichtig wird sein, wie das Gericht die Zeugenaussagen der ehemaligen Schülerinnen und vor allem die Stasi-Akten über die Aktion bewertet. Wenn Manfred N. freigesprochen würde, werde er aber auf jeden Fall Revision einlegen, so Nebenkläger-Vertreter Förster.