
Migrationspolitik Wie es mit den Zurückweisungen weitergeht
Die Bundesregierung will trotz eines Gerichtsurteils Asylsuchende weiter an der Grenze zurückweisen. Kann sie dabei bleiben? Was ist in der Migrationspolitik noch geplant? Und wie entwickeln sich die Asylzahlen?
Wie werden Menschen an der Grenze zurückgewiesen?
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt hatte am 7. Mai wenige Stunden nach seinem Amtsantritt eine Intensivierung der Grenzkontrollen verfügt und angeordnet, dass auch Asylsuchende an der Grenze zurückgewiesen werden können. Dies soll allerdings nicht für Schwangere, Kinder und andere Angehörige vulnerabler Gruppen gelten.
Bei Zurückweisungen werden Menschen an der Grenze daran gehindert, diese zu überqueren. Das ist möglich bei Personen, die keine Papiere bei sich führen beziehungsweise gefälschte Dokumente vorlegen oder gegen die eine Einreisesperre vorliegt. Eine "Zurückschiebung" findet statt, wenn Migranten bereits die Grenze passiert haben.
Wer Asyl beantragen will, darf im Normalfall nicht zurückgewiesen werden, sobald er sich auf deutschem Staatsgebiet befindet. Bei der Registrierung prüfen die Behörden allerdings, ob die betreffende Person schon in einem anderen EU-Mitgliedsstaat oder in Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz einen Asylantrag gestellt hat, über den noch nicht entschieden wurde.
Dieses Verfahren ist durch die Dublin-III-Verordnung geregelt. Das sogenannte Dublin-Verfahren soll verhindern, dass eine Person mehrfach einen Asylantrag stellt, und klären, welches Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist. Üblicherweise handelt es sich um das Vertragsland, das der Geflüchtete zuerst betreten hat.
Wie viele Zurückweisungen gab es?
Laut Innenminister Dobrindt hatte die Bundespolizei nach der Verschärfung der Grenzkontrollen innerhalb von einer Woche 739 Menschen an der Grenze zurückgewiesen - 45 Prozent mehr als in der Woche zuvor mit 511 Zurückweisungen.
Unter den Zurückgewiesenen waren demnach auch Asylsuchende: Von 51 Menschen, die ein Asylgesuch äußerten, seien 32 zurückgewiesen worden, sagte Dobrindt. Die anderen seien als vulnerable Personen ins Land gelassen worden.
Was sagt das Berliner Verwaltungsgericht dazu?
Vor dem Berliner Verwaltungsgericht hatten drei Flüchtlinge aus dem ostafrikanischen Somalia gegen ihre Zurückweisung bei einer Grenzkontrolle am Bahnhof Frankfurt (Oder) geklagt. Nach Darstellung des Bundesinnenministeriums erschienen sie am 2., 3. und 9. Mai an der deutsch-polnischen Grenze. Erst beim dritten Mal hätten sie ein Asylbegehren geäußert, das aufgrund der Vorgeschichte zurückgewiesen worden sei.
Das Berliner Verwaltungsgericht hatte in den Eilverfahren entschieden, dass Menschen nicht einfach zurückgewiesen werden dürfen, wenn sie nach dem Grenzübertritt auf deutschem Staatsgebiet um Asyl bitten. Die Bundesrepublik sei nach der Dublin-Verordnung der EU dazu verpflichtet, bei Asylgesuchen, die auf deutschem Staatsgebiet gestellt werden, in jedem Fall das vorgesehene Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaats vollständig durchzuführen.
Weiter hielten die Richter fest, dass sich die Bundesrepublik nicht darauf berufen könne, die Dublin-Verordnung angesichts einer Notlage nicht anwenden zu müssen. Insbesondere könne sie die Zurückweisungen nicht auf eine Ausnahmeregelung im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union stützen. Es fehle dafür die hinreichende Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Der Bundesinnenminister setzt auf eine Klärung im Hauptsacheverfahren.
Was ist ein Hauptsacheverfahren?
Die Beschlüsse des Berliner Verwaltungsgerichts erfolgten im Rahmen eines sogenannten Eilverfahrens. Die Richter gewähren damit den Klägern einen vorläufigen Rechtsschutz. Unabhängig davon kann ein Hauptsacheverfahren zustande kommen. Im vorliegenden Fall hat einer der Kläger ein solches beim Verwaltungsgericht anhängig gemacht.
Das Bundesinnenministerium hofft nun darauf, in diesem Hauptsacheverfahren Recht zu bekommen. Fraglich ist allerdings, ob das Hauptsacheverfahren tatsächlich fortgeführt wird. Laut dem Berliner Verwaltungsgericht kann der Kläger das Hauptsacheverfahren für erledigt erklären - weil mit dem Eilbeschluss sein Ziel bereits erreicht wurde. Diese Variante hat eine hohe Wahrscheinlichkeit.
Prozessrechtlich könnte das Bundesinnenministerium dann noch Widerspruch einlegen und das Gericht müsste prüfen, ob die Sache tatsächlich erledigt ist. Das Ganze könnte sich hinziehen, da keine Frist besteht, bis wann sich der Kläger in der Angelegenheit äußern muss.
Was spricht dafür, dass die Zurückweisungen weitergehen können?
Nach Auffassung des Konstanzer Juristen Daniel Thym können Bundespolizei und die Bundesregierung "ihre Praxis der Zurückweisungen gegenüber Polen und anderen Nachbarländern vorläufig fortsetzen", so der Professur für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht .
Juristisch gelte die einstweilige Anordnung des Berliner Gerichts nur für die drei Antragsteller, betreffe also die drei Einzelfälle. "Erst wenn mehrere Gerichte, auch aus anderen Bundesländern, einstweilige Anordnungen gegen die Bundesregierung erlassen, dürfte der politische Druck wachsen." Um das zu verhindern, müsse die Bundesregierung nun dringend eine solide Begründung vorlegen. Nur dann könne sie "eine Kaskade von Eilentscheidungen gegen sie" verhindern.
Was spricht dagegen?
Nach Einschätzung des Migrationsrechtsexperten Winfried Kluth ist offen, ob die Regierung die Zurückweisungen aufrechterhalten kann. Kluth betonte: "Die neue Bundesregierung will die Rechtsprechung dazu bringen, ihren Standpunkt zu ändern." Angestrebt würden letztlich Entscheidungen des EuGH, die mehr Spielräume böten. Zudem werde versucht, unter Verweis auf die Überlastung der Kommunen eine neue Argumentation für die Interpretation der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu etablieren. Diese sogenannte Notlagenklausel erlaubt Ausnahmen.
"Ob man von der Lage in einzelnen Kommunen auf ganz Deutschland schließen kann, ist aber sehr fraglich", gab der Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu bedenken.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus hält das Konzept der Zurückweisungen an den deutschen Grenzen für gescheitert. "Alle Fälle, die vor Gericht kommen werden, wird die Bundesregierung verlieren bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof. Die Frage ist nur, wie lange sie das noch durchziehen will", sagte Knaus im Podcast "5-Minuten-Talk" des Magazins Stern.
Wie hat die Bundesregierung auf das Urteil reagiert?
Nach außen gibt sich die Bundesregierung geschlossen. Rückendeckung für seinen Kurs in der Flüchtlingspolitik bekam der Bundesinnenminister durch Bundesjustizministerin Stefanie Hubig. Das Verwaltungsgericht habe nicht entschieden, dass künftig alle Asylbewerber ins Land gelassen werden müssten, betonte die SPD-Politikerin im Podcast Table.Today. Diese Entscheidung sage nur, dass die drei Antragsteller das Dublin-III-Verfahren durchlaufen müssten. "Und das hat der Innenminister zugesagt."
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) deutete beim Deutschen Kommunalkongress in Berlin an, die Entscheidungen könnten die Spielräume an den Grenzen möglicherweise etwas einengen. "Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können", so der Kanzler.
Was sagt die Polizei zum Gerichtsurteil?
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) beklagt nach dem Berliner Gerichtsurteil zu Zurückweisungen eine wachsende Verunsicherung von Beamtinnen und Beamten im Grenzeinsatz. Mit dem Urteil komme "jetzt eine gewisse Verunsicherung im Kollegenkreis auf", sagte der GdP-Vorsitzende Andreas Roßkopf im WDR-Radio.
Die Einsatzkräfte hätten laufend mit Fällen zu tun, wie sie nun vom Verwaltungsgericht Berlin beanstandet wurden. Zwar habe sich das Urteil des Gerichts auf die Fälle von drei Somaliern beschränkt, deren Zurückweisung an der deutsch-polnischen Grenze als rechtswidrig eingestuft wurde. "Aber es bleibt festzuhalten, dass es Fälle sind, die wir tagtäglich haben", sagte Roßkopf.
Die Beamtinnen und Beamten fragten sich, ob sie sich haftbar machen, wenn sie Anordnungen zur Zurückweisung umsetzten, die möglicherweise rechtswidrig seien. Hier müsse Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) Klarheit schaffen, der weitere Zurückweisungen angeordnet hat. "Die Weisung ist umzusetzen, aber die Haftung der Kollegen muss explizit letztendlich rausgenommen werden", sagte der Gewerkschafter.
Roßkopf verwies darauf, dass Beamte eine sogenannte Remonstrationspflicht hätten, wenn sie es mit offenkundig rechtswidrigen Anweisungen zu tun hätten. Sie müssten sich dann zu Wort melden, "damit sie eben aus dieser Verantwortung rauskommen", sagte er. Das Problem nach dem Berliner Gerichtsurteil sei, dass Juristen "sehr zwiespältig in ihrer Meinung" seien, welche Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen seien.
Wie entwickeln sich die Asylzahlen?
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist die Zahl der Asylanträge zuletzt zurückgegangen. In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden den Angaben nach 45.681 Erstanträge vom Bundesamt entgegengenommen, im Vorjahreszeitraum waren es 84.984 Erstanträge - das ist ein Rückgang um 46,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Im Monat April verzeichnete das BAMF 9.108 Erstanträge, ein leichter Anstieg im Vergleich zum März um 1,4 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ging die Zahl der Anträge dagegen um fast die Hälfte zurück (April 2024: 17.500). Bei Veröffentlichung der Zahlen hatte Nancy Faeser, Anfang Mai noch geschäftsführende Bundesinnenministerin, erklärt, sie erwarte für 2025 die geringsten Asylzahlen seit mehr als einem Jahrzehnt. Neuere Zahlen werden für Freitag erwartet. Berichten zufolge setzte sich der Rückgang der Asylanträge aber im Mai fort.
Der Trend zeigte sich schon in der Jahresbilanz 2024. Im vergangenen Jahr stellten insgesamt 250.945 Menschen einen Erst- oder einen Folgeantrag. Das waren 28,7 Prozent weniger als im Jahr zuvor.
Was will die Regierung noch in der Migrationspolitik ändern?
Derzeit präsentiert die Bundesregierung im Wochentakt neue Vorhaben zur Migrationspolitik. Zum Beispiel soll die Bundesregierung Länder künftig per Rechtsverordnung als sichere Herkunftsstaaten einordnen können - also ohne Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. Das hat das schwarz-rote Kabinett beschlossen. Es muss aber noch vom Bundestag bestätigt werden.
Im Bundesrat hatten Länder mit Regierungsbeteiligung von Grünen und Linken in der Vergangenheit mehrere Vorhaben blockiert, bei denen etwa Marokko, Tunesien und Algerien als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden sollten. Die Einstufung soll Asylentscheidungen für Menschen aus diesen Staaten beschleunigen und Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber erleichtern.
Nach bisheriger Planung wird sich der Bundestag am Freitag außerdem damit beschäftigen, ob der Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt werden soll. Anders als bei Flüchtlingen, die keinen eingeschränkten Schutzstatus haben, ist er jetzt schon auf 1.000 Angehörige pro Monat beschränkt.
Die schwarz-rote Koalition hatte außerdem im Koalitionsvertrag vereinbart, die von der Ampelkoalition eingeführte schnellere Einbürgerung von besonders gut integrierten Ausländern bereits nach drei Jahren wieder abzuschaffen. Das Vorhaben hat vergangene Woche das Kabinett passiert.