Linken-Parteitag Aufbruchstimmung nah am Abgrund
Mit Parteichef Schirdewan und der Aktivistin Rackete als Spitzenduo will die Linke in den Europawahlkampf starten. Der Parteitag steht im Zeichen der Erneuerung und inhaltlichen Schärfung.
"Die, die gehen wollten, sind weg. Wir haben Platz." Mit dieser Art Slogan fasst die Linke die Situation zusammen, in der sie jetzt ist. Und sie will zeigen: Wir sind offen - zum Beispiel für Menschen aus Bewegungen, Aktivistinnen und Aktivisten.
Eine davon ist Stella Merendino, Pflegerin und Gewerkschafterin aus Berlin. Sie ist Neumitglied und wurde direkt auf der großen Bühne willkommen geheißen. "Ich sehe es erstmal als meine Aufgabe, das Wort zu streuen", sagt Merendino. Sie möchte aufzeigen, dass die Linke die Partei mit besonderer Perspektive auch für junge Menschen sei. "Menschen, die auch komplett im Berufsleben stehen."
Parteispitze will Linke öffnen
Damit ist praktisch schon ein Teil der Ziele genannt, die die Parteiführung verfolgt: die Linke als politische Heimat für Aktivisten öffnen. Ein Signal, das auch mit dem Namen Carola Rackete verbunden ist. Kapitänin, Aktivistin für Flüchtlinge und für Klimaschutz. Sie wurde am Abend mit 77,8 Prozent auf Platz zwei der Europawahl-Liste gewählt. Parteichef Martin Schirdewan wurde mit 86,9 Prozent zum Spitzenkandidaten gekürt. Ebenso im Team für die Europawahl sind Özlem Demirel und der parteilose Gerhrad Trabert.
Der Noch-Fraktionschef der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, weist in seiner Rede aber darauf hin, dass eine Öffnung wahrscheinlich nicht reicht. "Wir müssen uns mit den vergangenen Landtagswahlen eingestehen, dass die Linke nicht im Aufwind ist", sagt er. Politische Thermik werde auch nicht alleine damit erzeugt, dass man über Person A rede und Person B öffentlich kritisiere. "Aufwind wird erzeugt durch Passgenauigkeit zwischen dem programmatischen Angebot und den Erwartungen der ganz normalen Menschen in diesem Land."
"Friedenstüchtig müssen wir werden"
Deshalb stand der Parteitag im Zeichen der inhaltlichen Schärfung. Klassische linke Themen: soziale Gerechtigkeit, höherer Mindestlohn, Umverteilung, Solidarität für alle weltweit - und vor allem: Frieden.
"Nicht kriegstüchtig wollen wir werden, friedenstüchtig müssen wir werden. Und das bedeutet als erstes, nicht Waffen in alle Welt zu liefern", ruft Parteichefin Janine Wissler in ihrer Rede, an deren Ende der Saal steht. "Wir wollen der Erschöpfung durch all die Krisen und der wachsenden Resignation Mut und Hoffnung entgegenstellen", sagt sie. "Zeit für Gerechtigkeit, Zeit für Haltung - in einer Zeit, in der gerade so viele nach rechts wegkippen."
Zeit für Gerechtigkeit und Haltung - so könnte dann auch das Motto sein der Linken, so wie die Parteichefs sie sich vorstellen. Und so wie es aussieht, versammelt sich der Parteitag auch hinter diesem klaren Kurs. Es herrscht Aufbruchstimmung unter den Delegierten.
Der ehemalige Parteichef Bernd Riexinger spricht von einer Befreiung: Eine Gruppe sei weg, die Gegensätze sehe zwischen Klimapolitik und sozialer Gerechtigkeitspolitik, oder dabei, die Interessen von Migrantinnen und Migranten zu vertreten. Diese Widersprüche seien jetzt weg, so Riexinger.
Zumindest vorerst scheint das auch zu halten. Zumindest bis auf weiteres.
Bei der Wahl von Linken-Chef Martin Schirdewan zum Spitzenkandidaten für die Europawahl ist es zu einer Provokation auf offener Bühne gekommen. Bevor Schirdewan auf dem Parteitag gewählt wurde, sorgte sein Gegenkandidat um Platz eins der Kandidatenliste, Bijan Tavassoli, für einen Tumult.
Tavassoli nutzte seine Bewerbungsrede für eine Beschimpfung der Partei und eine Lobrede auf Sahra Wagenknecht, die kürzlich aus der Linken ausgetreten war. Zum Abschluss seiner Rede erklärte Tavassoli selbst seinen Parteiaustritt. Zeitweise war unklar, ob er trotzdem kandidieren darf. Tavassoli redete auf der Bühne auf Schirdewan und die Tagungsleitung ein. Von den Delegierten des Parteitags gab es Protestrufe und Pfiffe.
Schließlich erreichte Tavassoli im Wahlgang gegen Schirdewan etwa zwei Prozent der Stimmen. Er wurde gebeten, von der Bühne zu gehen und wurde schließlich von Sicherheitsleuten aus dem Saal geleitet. Schirdewan sprach von einem "unschönen Zwischenfall".