Antisemitismus-Experte "Erleben einen erinnerungspolitischen Klimawandel"
Der Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora warnt vor einem "erinnerungspolitischen Klimawandel". Das zeige sich auch am Auftreten der AfD, an Aussagen von Maaßen und der Diskussion um Aiwanger, sagte Wagner.
tagesschau.de: Herr Wagner, vor einem Jahr, während der Corona-Pandemie, haben Sie dazu aufgerufen, "das reflexive Geschichtsbewusstsein" der liberalen Demokratie zu beschützen. Wie steht es heute um den Umgang der Deutschen mit der eigenen Geschichte?
Jens-Christian Wagner: Es ist schlimmer geworden. Zum einen halten die mit Corona einhergehenden Verschwörungslegenden und ahistorischen Gleichsetzungen einer "Corona-Diktatur" mit dem Nationalsozialismus an. Zum anderen ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hinzugekommen. Auch der geht mit Instrumentalisierungen der Geschichte, mit einer Schuldumkehr einher. Insbesondere die politisch rechtsextreme Seite nutzt den Krieg, um antiwestliche, antiliberale, antiamerikanische, aber auch antisemitische Ressentiments zu schüren.
Jens-Christian Wagner leitet seit 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit der Uni Jena.
tagesschau.de: Wie äußert sich das in der Stiftungsarbeit?
Wagner: In den letzten Monaten, vor allem in den letzten Wochen haben offene Angriffe deutlich zugenommen. Fast täglich tauchen an deutschen Gedenkstätten Neonazi- und antisemitische Schmierereien auf. Vor zwei Wochen gab es einen Anschlag auf die Geschäftsstelle der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Scheiben wurden zertrümmert, Tafeln umgeworfen. Diese Entwicklung besorgt uns sehr.
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich das?
Wagner: Wir erleben seit mehreren Jahren einen erinnerungspolitischen Klimawandel. Antisemitismus, Verschwörungslegenden, Reichsbürgerideologie nehmen zu. Das kann man im Grunde in drei Buchstaben zusammenfassen: AfD. Die Partei erlebt durch die verschiedenen Krisen viel Zulauf. Dabei vereint sie genau diese Strömungen in ihren Reihen, die auftretenden Rechtsextremen den Rückenwind gibt, sich offen gegen Gedenkstätten und Erinnerungskultur zu wenden. In diesem gesellschaftlichen Klima finden gewalttätige Angriffe auf Gedenkstättenarbeit statt.
Warnung vor AfD-Kandidaten bei OB-Wahl in Nordhausen
tagesschau.de: Die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora befindet sich in Nordhausen. Die Stadt wählt am Sonntag kommender Woche einen neuen Oberbürgermeister. Sie warnen öffentlich vor der Wahl des AfD-Kandidaten, dem gute Chancen nachgesagt werden. Warum?
Wagner: Jörg Prophet versucht, sich als vermeintlich Gemäßigter zu inszenieren. Dabei ist er Mitglied der Thüringer AfD, die von Björn Höcke geführt wird - ein Rechtsextremer mit völkischen "Reinigungs"-Phantasien und notorischem Geschichtsrevisionismus.
tagesschau.de: Und der Kandidat selbst?
Wagner: Prophet hat in der Vergangenheit vom sogenannten Schuldkult gesprochen. Das ist geschichtsrevisionistischer AfD-Diskurs pur. Vor zwei Wochen war er beim "Sommerfest" des antisemitischen und rechtsextremen "Compact Magazins". Dort ist Prophet zwischen Neonazis und Reichsbürgern aufgetreten. Offenbar hat er keine Berührungsängste.
Ein solcher Bürgermeister wäre für Nordhausen - eine Stadt, in der sich 1943 bis 1945 mit Mittelbau-Dora eines der fürchterlichsten Konzentrationslager Deutschlands befunden hat - eine Katastrophe. Ich bin mir sicher, dass Überlebende und ihre Angehörigen keinen Fuß mehr in das Nordhäuser Rathaus setzen würden, wenn dort ein AfD-Bürgermeister von Höckes Gnaden residieren würde. Und auch wir könnten und wollten dann keine Ausstellungen mehr in städtischen Räumen machen.
"Vogelschiss" wirkt sich auf Besucher aus
tagesschau.de: Sie sind seit 2001 mit Unterbrechung in Mittelbau-Dora und später auch Buchenwald tätig. Wie haben Sie den Umgang mit der AfD erlebt?
Wagner: Die Landtagsfraktion hat mehrere Kleine Anfragen zu unserer Arbeit und meiner Person gestellt. Es wurde meine fachliche Eignung als Leiter abgesprochen und mir vorgeworfen, ein Wessi zu sein, der über Netzwerke an seine Stelle gekommen wäre. Man streut Sand ins Getriebe und stiftet Misstrauen.
Heftiger sind allerdings die geschichtspolitischen Meinungsäußerungen: Gaulands "Vogelschiss", Höckes "Denkmal der Schande". Das merken wir im Gespräch mit Besucherinnen und Besuchern der Gedenkstätten. Provokatives Verhalten hat dort zugenommen.
tagesschau.de: 2017, nach der Dresdner Rede, erhielt Höcke Hausverbot in Buchenwald. Gilt das noch?
Wagner: Höcke hat kein Hausverbot. Er kann die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora jederzeit besuchen, um sich über die Geschichte des Nationalsozialismus zu informieren. Es ist aber allen AfD-Funktionären verboten, an Veranstaltungen der Stiftung teilzunehmen. Das würde extrem rechte Diskurse normalisieren.
tagesschau.de: Sind Sie als Leiter einer öffentlichen Stiftung nicht zu Neutralität verpflichtet - gerade vor Wahlen?
Wagner: Unsere parteipolitische Neutralität hört da auf, wo NS-Opfer verhöhnt werden oder unser gesetzlich formulierter Stiftungszweck infrage gestellt wird. Gerade der verpflichtet uns, Herrn Höcke und anderen rechtsextremen Politikern der AfD keine Bühne in der Gedenkstätte zu geben.
tagesschau.de: Sie sprachen von einem "erinnerungspolitischen Klimawandel". Zeigt sich der auch in der Diskussion um den bayerischen Vizepräsidenten Hubert Aiwanger und ein geschmackloses Pamphlet, das zu Schulzeiten bei ihm gefunden wurde?
Wagner: Aiwanger hätte sich entschuldigen und glaubhaft Einsicht zeigen sollen. Das hat er erst spät und nur halb getan. Nun wirft er seinen Gegnern vor, "die Shoah für parteipolitische Zwecke zu missbrauchen". Das zeugt nicht von Einsicht. Lägen die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Bayern, ich würde Aiwanger nicht erlauben, bei uns Gedenkreden zu halten. Aber es geht nicht nur um ihn.
tagesschau.de: Sondern?
Wagner: Dank seiner zahlreichen Verteidiger wird statt über ein den Holocaust verherrlichendes Pamphlet nur noch über eine angebliche Schmutzkampagne gesprochen. Den erinnerungspolitischen Klimawandel kennzeichnet ein Nachlassen von Geschichtsbewusstsein und historischer Sensibilität gegenüber den NS-Verbrechen. Die Negativfolie des Nationalsozialismus war immer grundlegend für das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik. Das gilt heutzutage nicht mehr.
Maaßen habe NS-Opfer verhöhnt
tagesschau.de: Sie haben den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen wegen Volksverhetzung angezeigt. Maaßen hatte auf dem Twitter-Nachfolger X geschrieben: "In den 1930er-Jahren hieß es: 'Kauft nicht bei Maaßen.' Geschichte wiederholt sich."
Wagner: Maaßen spielt damit auf den Slogan "Kauft nicht bei Juden" an. Der sogenannte Judenboykott war einer der ersten Schritte auf dem Weg zur vollständigen Ausgrenzung und Entrechtung der Juden - und dann zur brutalen Verfolgung und zum Massenmord ab 1941. Das muss man in einer Linie sehen.
Sich damit gleichzusetzen ist nach meiner festen Überzeugung eine Verharmlosung der Shoah, ein Verstoß gegen Paragraph 130 Strafgesetzbuch. Ich hoffe, dass Maaßen so die Einsicht ereilt, dass ahistorische, die Opfer verhöhnende NS-Gleichsetzungen nicht statthaft sind.
tagesschau.de: Maaßen verfolgt - nach eigener Aussage - eine "antisozialistische Wende" in Thüringen, irgendwo zwischen AfD, CDU und FDP. Welche Rolle spielt er bei dem gesellschaftlichen Wandel, vor dem Sie warnen?
Wagner: Maaßen ist zweifelsohne im neurechten, extrem rechten Milieu angelangt und dort fest verankert. Offenkundig sind seine Beziehungen zum Reichsbürgermilieu. Er hat vor einigen Monaten von einem angeblich "eliminatorischen Rassismus gegen Weiße" gesprochen. Damit spielt er auf den eliminatorischen Antisemitismus an, den Daniel Goldhagen in den 1990er-Jahren beschrieben hat. Da haben wir wieder eine Schuldumkehr, einen Geschichtsrevisionismus. Maaßen verbreitet Legenden vom "Great Reset" und "globalistischen Eliten". Das sind antisemitische Codes.
Trotzdem ist Maaßen weiterhin CDU-Mitglied. Meine große Sorge ist, dass es ihm gelingt, Parteifreunde auf seine Linie festzulegen. Ich hoffe, dass sich die Thüringer CDU deutlicher von ihm distanziert und das Parteiausschlussverfahren am Ende von Erfolg gekrönt ist.
Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de