Preis der "Zeitenwende" Die müde Gesellschaft
Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich auch in Deutschland viel verändert. Das Leben ist teurer geworden, die Bevölkerung ist müde. Welche Spuren haben die vergangenen Jahre hinterlassen?
Es ist die Erschöpfung, die Müdigkeit, die viele Familien in Deutschland gerade allzu gut kennen. Nach den Pandemie-Jahren sei einfach nicht mehr so viel Kraft da, erzählt Ileana Dilger. Sie ist Mutter von drei Kindern und arbeitet in einem Kita-Träger in Berlin. Sie merke den Unmut der Familien, die am Limit seien. Aber auch sie fühle sich manchmal einfach erschöpft und hoffnungslos wegen der vielen Krisen der vergangenen Jahre.
Schlechte Bedingungen bei der Betreuung von Kindern, Fachkräftemangel, fehlende Schulplätze, dazu noch gestiegene Lebensmittelpreise und die ständigen Meldungen über Krieg in der Ukraine und seit Monaten auch Israel. Viele Eltern ziehen sich zurück und versuchen, noch das Beste daraus zu machen, erzählt Dilger. Aber die Puste gehe langsam vielen aus.
Zwei Jahre liegt es nun zurück, dass der Kanzler seine berühmte "Zeitenwende"-Rede gehalten hat, die der Ukraine Unterstützung zusagte. Doch die Deutschen schauen schon seit Jahresbeginn nicht besonders zuversichtlich ins neue Jahr. Nach dem Deutschland-Trend im Januar halten mit 41 Prozent - also mittlerweile doppelt so viele Bundesbürger wie noch zu Kriegsbeginn - die finanzielle Unterstützung der Ukraine durch Deutschland als zu weitgehend.
Sie frage sich manchmal, ob es auch eine Vision für Familien gebe, erzählt Dilger. Auch, wie man vor allem in Bildung und Kinder investiere. Mehr Kindergeld sei zwar bei ihnen angekommen, aber sonst?
Das Geld sei manchmal einfach knapp, auch wenn sie gerade eine Gehaltserhöhung bekommen habe. Die Familie wohnt zu fünft in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Die Suche nach etwas Größerem haben sie aufgegeben, die Wohnungsnot in Berlin ist an allen Ecken zu spüren.
Die Mieten seien teilweise um das Dreifache gestiegen, erzählt Ileana Dilger. Das sei einfach manchmal nur erschütternd. Zwei Jahre nach Beginn des Krieges in der Ukraine sind in Deutschland viele Probleme nicht gelöst - und der Unmut wächst.
"Mein Leben steht still"
Am Stadtrand von Berlin sitzt seit einem Jahr und drei Monaten Natalia Poltava in der Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen-Gelände Tegel. Sie ist mit ihren drei Kindern nach Deutschland geflohen. Sie sind neun, zwölf und dreizehn Jahre alt und leben dort mit wenig Privatsphäre zusammen mit rund 3.700 Geflüchteten aus der Ukraine und 500 aus anderen Ländern. Seit mehr als einem Jahr schafft es die Familie nicht raus aus der Flüchtlingsunterkunft, die nur eine erste Anlaufstelle sein sollte.
"Das Leben ist hier sehr belastend, meine Kinder können nicht zur Schule gehen", sagt Poltava. "Ich bekomme hier manchmal Panikattacken, wie es weitergehen soll. Das Leben steht hier einfach still für uns." Auch andere Geflüchtete sind verzweifelt.
So ist die 60-jährige Natalia Cherson den Tränen nah, als sie erzählt, dass sie auch schon seit gut einem Jahr keine andere Unterkunft in Deutschland bekommt. Sie ist mit ihrem Enkel aus der ukrainischen Stadt Melitopol geflohen. Sie könnten einfach nicht mehr zurück, die Stadt sei besetzt.
Sie sei dankbar, dass sie in Berlin-Tegel aufgenommen wurde, sagt Cherson. Aber sie möchte arbeiten, eine eigene Unterkunft, ihr Leben leben. "Es gibt gute Dinge hier, aber eben auch schlechte in der Unterkunft. Hauptsache, es wird nicht geschossen."
Müde Gesellschaft
Mark Seibert vom Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten bereitet die Situation schlaflose Nächte, sagt er. Es gebe keinen Ort mehr in Berlin, wo man die Geflüchteten unterbringen könnte. "Es gibt schon für Normalverdiener keine Chance, überhaupt noch einen Wohnplatz zu finden. Unsere Gemeinschaftsunterkünfte sind voll. Ich habe aktuell null Plätze in den Unterkünften", so Seibert.
Er merke die Müdigkeit, die sich in der Stadt breit gemacht habe. Es gebe noch viele NGOs, die in Tegel helfen würden, aber die Solidarität, wie am Anfang, als die Geflüchteten am Bahnhof in Berlin ankamen, sei weniger geworden. "Auch ich bin müde geworden, weil ich mir eine andere Unterbringung für die Menschen wünsche. Ich blicke mit Sorge in die Zukunft."
"Die Politik hat planlos gehandelt"
Bei den einen ist es Sorge, Müdigkeit über die aktuelle Situation im Land. Bei anderen ist es Wut, die immer lauter wird, wie im bayerischen Wolfratshausen. Dort protestiert Manfred Fleischer vom Sportverein BCF Wolfratshausen schon seit Monaten.
Er steht vor einer Turnhalle, die seit März 2022 mit gut 200 Geflüchteten belegt ist. Sein Sportverein habe schon viele Mitglieder verloren, weil sie darin nicht mehr trainieren könnten. Jugendliche müssten nun kilometerweit zur nächsten Halle fahren, so mancher hätte aufgegeben.
Seine Geduld sei nun am Ende. "Die Politik hat planlos gehandelt, am Ende stehen die Kommunen und ganz am Ende mein Sportverein, der das ausbadet und um die Existenz kämpft", sagt Fleischer. Er habe schon im Oktober 2023 mit anderen Mitgliedern vor der Halle demonstriert. Passiert sei nichts. Es fehle die Perspektive, wie es überhaupt weiter geht, eine Lösung.
Dem zuständigen Landrat Josef Niedermaier von den Freien Wählern macht der Unmut, die Proteste vor Ort, große Sorge. Schnell findet er aber keine Lösung, auch er suche Alternativen. Zwei Jahre nach Beginn des Krieges in der Ukraine ist er ratlos, was die Stimmung in seinem Landkreis angeht. "Ich habe mir nie vorstellen können, dass die Gesellschaft mal so heftig reagiert."