Richter, Staatsanwälte, Gerichtsvollzieher Mehr Übergriffe auf Justizpersonal?
Gerichtsvollzieher und andere Beamte der Justiz berichten von einem Trend: Es gebe mehr Beleidigungen, Bedrohungen oder gar Angriffe im Dienst. Doch ein Überblick ist schwierig, verlässliche Zahlen gibt es kaum.
Thomas Hannß öffnet einen Brief. Darin ist ein Schreiben, das er mal selbst verschickt hat. Jetzt kommt es zurück, vom Empfänger mit dickem Filzschrift kommentiert. "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", steht da etwa dick drauf. Und noch ein Vorwurf: "Vorsätzlicher Betrug". Thomas Hannß ist Gerichtsvollzieher und als solcher mittlerweile einiges gewohnt. Beleidigungen gebe es immer mal wieder, bei Ortsterminen komme es gar zu bedrohlichen Situationen.
Zwangsräumungen lösen teils heftige Reaktionen aus
In Denkendorf bei Stuttgart muss Thomas Hannß Mitte Oktober eine Mietwohnung räumen. Dafür zieht er eine stich- und schusssichere Weste an. In dem Mietshaus gab es schon mal Probleme mit den Ordnungsbehörden. Hannß hat deshalb die Polizei dazugerufen. "Man steht vor der Wohnungstür und muss mit einer Eskalation rechnen. Darauf stellt man sich auch mental ein", sagt er. Er klingelt, klopft. Für die Haustür hat er einen Schlüssel. Er schließt auf. "Hallo? Hier ist Herr Hannß vom Amtsgericht", ruft er ins Treppenhaus. Vorsichtig betreten er und der Polizist den Hausflur.
Solche Einsätze können besonders emotional verlaufen und auch eskalieren. Das zeigen Fälle aus der jüngeren Vergangenheit. Im vergangenen Jahr soll etwa ein Gerichtsvollzieher im Rems-Murr-Kreis mit einer Kettensäge bedroht worden sein, in Essen schüttete ein Wohnungsbesitzer eine Flüssigkeit in Richtung einer Gerichtsvollzieherin und drohte diese anzuzünden.
Nicht alle Bundesländer erfassen Übergriffe
Beamte der Justiz insgesamt geraten offenbar zunehmend in aggressive Situationen. Das gilt ebenso für Wachtmeister an den Gerichtspforten, teils auch für Richter und Staatsanwälte. Interessenverbände wie die Neue Richtervereinigung (NRV) haben den Eindruck, dass solche Taten zunehmen. Das sagen auch einige Justizministerien der Länder. Nur: Es gibt keine valide Datenbasis dafür.
Acht Bundesländer erfassen, was Richter, Staatsanwälte, Wachtmeister und Gerichtsvollzieher erleben. Drei Bundesländer erheben dies unregelmäßig oder beginnen damit gerade, darunter Bayern und Nordrhein-Westfalen. In fünf Justizministerien gibt es gar keine statistischen Erkenntnisse - darunter Bremen, Hessen und Thüringen.
Das sei ein Problem, so die NRV. "Nur mit einer Statistik können wir für die ganze Bundesrepublik beurteilen, wie viele Übergriffe es gibt", sagt NRV-Vorstandsmitglied Sven Kersten.
Da, wo es Zahlen gibt, zeigen sie unterschiedliche Bilder. In Rheinland-Pfalz wurde vergangenes Jahr nur ein Vorfall mit "sicherheitsrelevantem Charakter" erfasst, in diesem Jahr waren es bis Ende August neun. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es seit Jahren laut der Statistik ebenfalls nur vereinzelt Vorkommnisse. Anders in Niedersachsen: Dort gab es zuletzt jährlich rund 200 Meldungen von betroffenen Bediensteten - die Anzahl blieb gleich. In Bayern stieg sie innerhalb von drei Jahren von rund 300 auf über 540 an.
Justizministerin sieht Ursache in sinkendem Respekt
Einen Anstieg verzeichnet auch Baden-Württemberg. Seit 2020 zunächst nur leicht, im laufenden Jahr deutet sich aber ein erheblicher Sprung an: Gab es 2023 noch 177 Meldungen, waren es bis Ende Juli dieses Jahres schon 132. Dazu zählen etwa Beleidigungen, Bedrohungen oder Angriffe.
Die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU) erklärt das mit einer zunehmenden Respektlosigkeit gegenüber Institutionen und Vertretern des Staates. Vorfälle sind zwar auf das Jahr gesehen weiter eine Ausnahme. Dennoch: "Es muss uns besorgen, wenn die Vertreter des Rechtsstaats nicht mehr hinreichend ernst genommen werden", sagt Gentges.
Die Bundesländer probieren es mit unterschiedlichen Schutzmechanismen. Vielerorts gibt es in den Gerichten Sicherheitsschleusen. In Schleswig-Holstein und vielen anderen Ländern ist die Gewaltprävention Thema in der Ausbildung. Und Niedersachsen beginnt kommendes Jahr mit Übungen für Gefahrenlagen in den Gerichten.
Land Berlin schlägt Verschärfung des Strafrechts vor
Die Berliner Justizsenatorin möchte derweil bestimmten Übergriffen mit einer Verschärfung des Strafrechts entgegenwirken. Die Nötigung von Gerichtspersonen, also etwa Richtern und Staatsanwälten, soll künftig mit mindestens sechs Monaten Haftstrafe bedroht werden. "Es ist ein kleiner Schritt, der aus meiner Sicht wichtig ist. Wir müssen schauen, dass solche Angriffe auch strafrechtlich verfolgt werden können", sagt Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU).
Verschiedene Kriminologen sehen solche Verschärfungen aber kritisch. Die meisten Täter wissen im Moment der Tat nicht, was das angedrohte Strafmaß ist, sagt Roland Imhoff, Professor für Sozial und Rechtspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.
Die Neue Richtervereinigung beschäftigt ein anderes Phänomen. Sie stellt vermehrt Übergriffe im privaten Umfeld vor. "Da findet eine Verknüpfung von Amts- und Privatperson statt", sagt Sven Kersten. Der Grund: Bürger können über die Meldeämter wie von allen Bürgern auch die Privatanschrift von zum Beispiel Richtern erfragen und das missbrauchen. Kersten fordert daher eine Änderung des Meldegesetzes, damit Betroffene leichter solche Auskünfte verhindern können.
"Erschreckend ist auch, wenn Richtern in den Sozialen Medien wegen ihrer Urteile unverhohlen mit Gewalt gedroht wird", sagt Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes. Dem möchte das Land Baden-Württemberg mit einer extra eingerichteten Beratungsstelle begegnen. Sie hilft Justizbediensteten beim Löschungsantrag von Hass-Postings im Internet.
Gerichtsvollzieher fordern bundesweit einheitliche Ausbildung
Die Gerichtsvollzieher hoffen vor allem auf Schutz für ihre Gesundheit. Sie fordern eine bundesweite Ausbildungsreform, damit angehende Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher immer Gewaltprävention und Eigensicherung lernen. "Eine einheitliche Ausstattung mit technischen Schutzausrüstungen muss damit aber einhergehen", sagt Matthias Boek, Bundesvorsitzender des Gerichtsvollzieher Bundes. Auch da gebe es in manchen Bundesländern noch Nachholbedarf.
Zurück zu Gerichtsvollzieher Thomas Hannß aus Baden-Württemberg. Er hat die Räumung bei Stuttgart ohne Zwischenfälle hinter sich gebracht. Die Mieterin war nicht da. Der 56-Jährige ist erleichtert. "Man ist froh, wenn nichts passiert. Aber es heißt nicht, dass man deswegen für weitere Räumungen auf der sicheren Seite ist", so Hannß.
Zwei Tage später steht schon seine nächste Räumung im Kalender. Auch dann wird er wieder seine Schutzweste überziehen - sicher ist sicher.