4.782 Vorfälle im vergangenen Jahr Antisemitismus äußert sich immer gewaltvoller
Mehr Bedrohungen und Sachbeschädigungen - aber vor allem mehr extreme Gewalt: 2023 hat es einen massiven Zuwachs antisemitischer Vorfälle gegeben. Die Meldestelle RIAS sieht einen eindeutigen Zusammenhang zum Terrorangriff auf Israel.
Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland ist im vergangenen Jahr massiv angestiegen: Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentierten 2023 insgesamt 4.782 antisemitische Vorfälle - das ist ein Anstieg um fast 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Mehr als die Hälfte dieser Fälle (2.787) ereigneten sich demnach nach dem Terrorangriff und den Massakern der Hamas in Israel, seien also als unmittelbare Reaktionen auf den Gewaltausbruch an diesem Tag zu verstehen. Die Autorinnen und Autoren schreiben dazu:
Mit dem 7.Oktober 2023 begann für viele Jüdinnen und Juden eine neue Zeitrechnung: Ihr Leben teilt sich in ein Davor und ein Danach.
Seitdem sei Antisemitismus auch in Deutschland "in allen gesellschaftlichen Bereichen auf eine nicht bekannte Weise sichtbar". Zwischen dem 7. Oktober und dem Jahresende habe es rechnerisch 32 Vorfälle pro Tag gegeben. 2022 seien es sieben pro Tag gewesen. Das Kriegsgeschehen in Israel und Gaza habe "einen Anlass für Mobilisierungen und antisemitische Vorfälle" gegeben.
52 Prozent aller Vorfälle fielen in die Kategorie israelbezogener Antisemitismus. Das heißt, die antisemitischen Aussagen richteten sich gegen den jüdischen Staat Israel und sprachen ihm etwa die Legitimität ab.
Der RIAS-Bundesverband wurde im Oktober 2018 gegründet. Er verfolgt nach eigenen Angaben das Ziel, mithilfe des Portals report-antisemitism.de bundesweit eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten.
Die veröffentlichten Zahlen basieren auf Meldungen antisemitischer Vorfälle durch Betroffene oder Zeugen sowie auf Informationen, die andere Organisationen an RIAS übermittelten. Die Meldungen wurden entweder vom Bundesverband RIAS oder von einer der regionalen RIAS-Meldestellen erfasst und verarbeitet.
Sieben Vorfälle extremer Gewalt
Antisemitismus äußerte sich laut RIAS seit dem 7. Oktober gewaltvoller als zuvor. Die Meldestellen dokumentierten 2023 sieben Vorfälle extremer Gewalt, fünf davon ereigneten sich nach dem 7. Oktober. Darunter versteht RIAS physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können, sowie schwere Körperverletzungen. Die Kategorie schließt auch versuchte Taten mit ein, die sich gegen jüdische Gemeinden, jüdische Einzelpersonen oder auch nicht-jüdische Einzelpersonen richten.
Zudem habe es im vergangenen Jahr insgesamt 121 antisemitische Angriffe gegeben - im Vorjahr waren 58 solcher Vorfälle registriert worden. Dabei geht es um Beschimpfungen, Bedrohungen mit Messern, Spuckattacken, Rempeleien und weitere nicht lebensbedrohliche körperliche Gewalt.
Auch die Zahl der Bedrohungen stieg nach dem 7. Oktober deutlich an. 64 Prozent aller 2023 registrierten 183 Bedrohungen fallen in die letzten drei Monaten des Jahres. Dazu zählt RIAS eindeutige und direkt adressierte schriftliche oder mündliche Androhungen von Gewalt. Personen, die sich mit den Opfern der Angriffe solidarisch zeigten, wurden auch in sozialen Medien vielfach antisemitisch angefeindet und bedroht.
Im Bereich Sachbeschädigungen gab es 2023 einen Anstieg um 60 Prozent - von 205 Fällen 2022 auf 329 Fälle. Das sind etwa Schmierereien an Gedenkorten, aber auch Eierwürfe auf Privathäuser, vor denen eine Israelflagge hing.
415 antisemitische Versammlungen
Eine zentrale Rolle spielten Versammlungen: In der Zeit nach dem 7. Oktober erfasste RIAS 415 antisemitische Versammlungen. Die meisten davon wurden dem politischen Hintergrund des antiisraelischen Aktivismus zugeordnet.
An den Versammlungen nahmen Personen und Gruppen unterschiedlicher politischer Hintergründe teil. Sie eint laut RIAS ihre ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Israel.
Viele Vorfälle an Bildungseinrichtungen
Mit Beschimpfungen und Gewalt waren nach dem 7. Oktober immer häufiger auch Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrpersonal konfrontiert: 471 Vorfälle an Hochschulen, Schulen und Kitas, aber auch Museen und ähnlichen Einrichtungen wurden gemeldet - 301 davon nach dem Terrorangriff. Dokumentiert sind Aussprüche wie "Drecksjude" gegenüber einer Lehrerin, oder Sätze wie "die Juden" seien "Mörder", hätten Schuld an der Schoah und trügen die Verantwortung für das, was in Palästina passiere.
Wie schon in den Vorjahren konnten die Meldestellen einen Großteil der antisemitischen Vorfälle nicht eindeutig einem bestimmten politisch-weltanschaulichen Hintergrund zuordnen. 2023 war dies bei 61 Prozent aller Vorfälle so. Bei den Vorfällen, die eindeutig zugeordnet werden konnten, war erstmals mit zwölf Prozent aller Vorfälle der antiisraelische Aktivismus die häufigste Kategorie.