Urteil aus Karlsruhe erwartet Legasthenie-Vermerk im Zeugnis verfassungswidrig?
"Aufgrund einer Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet": Ist ein solcher Vermerk im Abizeugnis diskriminierend oder gerechtfertigt? Darüber entscheidet heute das Bundesverfassungsgericht.
Das Urteil wird von großer praktischer Relevanz sein. Denn die drei Kläger aus Bayern stehen stellvertretend für Tausende von Kindern und Jugendlichen mit Legasthenie. Allein in Bayern gelten rund 10.000 Schülerinnen und Schüler als Legastheniker.
Legasthenie ist etwas anderes als eine bloße Lese- und Rechtschreibschwäche. Das betont Tanja Scherle, Vorsitzende des Bundesverbandes Legasthenie. "Die Abgrenzung zur Lese-Rechtschreib-Schwäche ist diese, dass die Lese-Rechtschreib-Schwäche vorübergehend sein kann und andere Ursachen hat als die Legasthenie. Die Legasthenie bleibt ein Leben lang."
Kläger: Vermerk ist diskriminierend
Bei Legasthenie handelt es sich um eine Lese- und Rechtschreibstörung. Die Erkrankung führt immer wieder zu psychischen Problemen. Die Betroffenen haben oft Angst vor der Schule, vor den Prüfungen, und ziehen sich häufig zurück.
Bei den drei Klägern wurde fachärztlich Legasthenie festgestellt. 2010 hatten sie ihr Abitur in Bayern gemacht. Im Abiturzeugnis wurde vermerkt: "Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet." Das dürfe so nicht im Zeugnis stehen, meinen die Kläger. Der Vermerk sei diskriminierend.
Transparenz und Chancengleichheit?
Dem widerspricht Michael Piazolo, bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus. Ein Vermerk darüber, dass die Rechtschreibleistungen von Schülern mit Legasthenie anders oder gar nicht bewertet werden, müsse im Zeugnis aus unterschiedlichen Gründen aufgenommen werden. "Klarheit und Transparenz auf der einen Seite, aber auch Chancengleichheit. Wir haben beim Abitur normalerweise eine objektive Prüfung, die für alle gleich ist. Hier weichen wir davon ab. Es ist dann ein anderer Maßstab."
So sahen das bisher auch die Verwaltungsgerichte. Zuletzt lehnte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Klagen ab. Legasthenie sei zwar juristisch als Behinderung anerkannt. Aber wenn eine Prüfung erleichtert werde, dürfe das trotzdem im Zeugnis stehen. Das sei keine Benachteiligung, denn es gehe nicht darum, Behinderungen zu dokumentieren, sondern darum, das Zeugnis transparenter zu machen.
Schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt möchte Staatsminister Piazolo nicht als Argument gelten lassen. Der Zeugnisvermerk schaffe einfach Klarheit.
Schlechtere Chancen bei Bewerbungen
Rechtsanwalt Thomas Schneider vertritt die drei Kläger seit mehr als zwölf Jahren. Er verweist auf das Grundgesetz, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Wenn bei Legasthenikern die Rechtschreibung nicht bewertet würde, dann dürfe deswegen auch kein Vermerk ins Zeugnis geschrieben werden.
"Wenn so etwas jemand liest, sei es bei der Uni, bei der Ausbildungsstätte oder bei einem Arbeitgeber, wo ich mich bewerbe, der stellt sofort Nachfragen schon im schriftlichen Bewerbungsprozess. Das heißt: Die Gefahr, dass man sofort aussortiert wird, ist bei so einem Zeugnis viel größer als bei einem normalen Zeugnis, das jeder andere Schüler bekommt."
Darf der Staat also Bemerkungen über Prüfungserleichterungen ins Zeugnis schreiben? Oder ist das verfassungswidrig, weil sonst Schüler mit Legasthenie benachteiligt werden? Diese Fragen wird das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil beantworten.