Bundesverfassungsgericht Zeugnisse dürfen Hinweis auf Legasthenie enthalten
Legastheniker müssen in ihrem Zeugnis einen Vermerk über nicht benotete Rechtschreibung hinnehmen. Das hat das Verfassungsgericht entschieden. Solche Hinweise dürfen aber nicht auf Legasthenie beschränkt werden.
Rein formal betrachtet haben die drei Abiturienten, die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hatten, Recht bekommen. Mit ihrem Hauptanliegen sind sie aber nicht durchgedrungen.
Die drei Kläger sind junge Erwachsene aus Bayern, bei denen fachärztlich Legasthenie festgestellt wurde. Bei Legasthenie handelt es sich um eine Lese- und Rechtschreibstörung. 2010 hatten sie ihr Abitur gemacht. Im Abiturzeugnis wurde vermerkt: "Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet."
Kläger: Vermerk ist diskriminierend
Ein solcher Vermerk sei diskriminierend, so die Kläger, und verstoße gegen Artikel drei Absatz drei Grundgesetz. Danach dürfen Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden. Durch den Vermerk liege aber eine Benachteiligung vor, so der Anwalt der Kläger, Thomas Schneider. Etwa wenn sich ein Abiturient mit Legasthenie um einen Job, eine Ausbildung oder einen Studienplatz bewerbe:
Wenn jemand so etwas liest, sei es bei der Uni, bei der Ausbildungsstätte oder bei einem Arbeitgeber, wo ich mich bewerbe, der stellt ja sofort Nachfragen. Die Gefahr, dass man sofort aussortiert wird, ist bei so einem Zeugnis viel größer als bei einem normalen Zeugnis, das jeder andere Schüler bekommt.
BVerfG: Vermerk ist zulässig
Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Argumentation aber nicht gefolgt. Im Gegenteil. Es hat entschieden, dass solche Vermerke über Prüfungserleichterungen in Zeugnissen grundsätzlich zulässig sind.
In bestimmten Fällen müssten solche Vermerke sogar zwingend erfolgen, etwa beim Abitur, sagte Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth:
Unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere wenn der Gesetzgeber dem Abitur die allgemeine Hochschulreife beimisst und das darüber erteilte Zeugnis einen grundsätzlichen Anspruch auf Studienzulassung für alle Fächer vermittelt, können Bemerkungen im Abschlusszeugnis über eine ansonsten nicht erkennbare, nur auf Antrag erfolgte Nichtbewertung angesichts der konkreten Ausgestaltung des Abiturs sogar verfassungsrechtlich geboten sein.
Gericht: Auch andere Behinderungen berücksichtigen
Dabei gehe es um den chancengleichen Zugang aller Abiturientinnen und Abiturienten zu Ausbildung und Beruf. Hier sei Transparenz erforderlich, wenn von allgemeinen Prüfungsmaßstäben abgewichen werde. Unterm Strich bedeutet das: In Schulzeugnissen darf weiterhin vermerkt werden, wenn Teilleistungen - wie beispielsweise die Rechtschreibung - bei der Benotung außer Acht gelassen wurden. Unter Umständen müssen solche Vermerke sogar erfolgen.
Trotzdem haben die drei jungen Männer, die wegen des Vermerks in ihrem Zeugnis geklagt hatten, in ihren konkreten Fällen Recht bekommen. Es sei verfassungswidrig, wenn bei Prüfungserleichterungen - wie noch vor Jahren in Bayern üblich - zwar die Legasthenie, aber andere Behinderungen nicht erwähnt werden. Dies verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, so das Verfassungsgericht. Auch das ist ein sehr wichtiger Teil des Urteils: Wenn Vermerke über Prüfungserleichterungen in den Zeugnissen erfolgen, darf das nicht auf Legasthenie beschränkt werden.
Angst vor Diskriminierung bleibt
Im Übrigen ist das Urteil von großer Relevanz. Nach Angaben des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie leiden bis zu zwölf Prozent der Deutschen unter einer Lese- oder Rechtschreibstörung. Die Bundesvorsitzende des Verbandes Tanja Scherle, die zur Urteilsverkündung nach Karlsruhe gekommen war, meinte, sie habe nach der Entscheidung gemischte Gefühle. Zum einen sei es gut und hilfreich, dass der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts Legasthenie als Behinderung im Sinne des Grundgesetzes eingestuft und qualifiziert habe.
Dennoch sei sie enttäuscht:
Wir hätten uns gewünscht, dass die Zeugnisvermerke nicht mehr notwendig sind. Diese Entscheidung ist durchaus sehr belastend. Weil Abiturienten und Absolventen sich mit diesen Bemerkungen in die Bewerbungsverfahren begeben müssen. Die Angst vor Diskriminierung wird bleiben.
Rechtsanwalt Schneider, Prozessvertreter der Kläger, reagierte nach der Urteilsverkündung ebenfalls enttäuscht: Die Kläger hätten sich etwas anderes vorgestellt. "Wir nehmen zur Kenntnis: So wie es damals in Bayern gehandhabt wurde, geht es nicht. Wie sich das nun verändert, müssen die Schulverwaltungen in allen Bundesländern entscheiden."
Nicht nur in Bayern, auch in anderen Bundesländern werden die Kultusministerien das Urteil sorgfältig studieren und auswerten müssen. Die Länder wissen jetzt: Solche Vermerke sind grundsätzlich erlaubt, in manchen Fällen sogar geboten. Dabei müssen aber alle Behinderungen berücksichtigt werden, nicht nur Legasthenie.
Aktenzeichen: 1 BvR 2577/15, 2578/15 und 2579/15.