Klimaschutz in Deutschland Im Land der zwei Geschwindigkeiten
Die meisten Deutschen sprechen sich für mehr Klimaschutz aus. Die Frage ist nur wie - und wie schnell. Den einen geht die Transformation nicht schnell genug, andere sehen sich durch die geplanten Maßnahmen der Politik überrollt.
Wenn es nach den Umfragen ginge, wäre Klimaschutz in Deutschland kein Problem. Laut ARD-DeutschlandTrend sehen die Deutschen Umweltschutz und Klimawandel als wichtigstes Problem, das es anzugehen gelte.
Trotzdem treffen die Maßnahmen der Regierung in Berlin zum Teil auf erbitterten Widerstand, sobald sie konkret werden: Stromtrassen? Bitte am besten unter der Erde! Elektromobilität? Aber nur, wenn es noch Autos mit Tank geben darf! Und: Das Gebäudeenergiegesetz? Am besten gar nicht.
Jedes dieser Themen sei anders gelagert, sagt der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies von der Freien Universität Berlin, aber alle hätten mit einem Grundthema zu tun: der Frage, wie veränderungsfähig eine Gesellschaft wie die deutsche sei: "Die größte Herausforderung ist die Transformation, und Transformation heißt, das wir unsere Art zu produzieren und konsumieren ändern müssen."
Das klinge erst mal sehr vage, so Lepenies. "Aber mit den Politikmaßnahmen der letzten Wochen und Monate merkt man, dass das langsam immer konkreter wird." Weder die Politik noch die Bürger seien richtig darauf vorbereitet, was das eigentlich bedeute."
Extremste Vertreter
Was Veränderung betrifft, gibt es ein Deutschland der zwei Geschwindigkeiten: Zum einen Menschen, die Angst haben, dass die Transformation zu langsam geht und damit die Zukunft der nächsten Generation auf dem Spiel steht. Zum anderen Menschen, die Angst haben, dass alles zu schnell geht und damit ihre Art und Weise zu leben infrage gestellt wird.
Zu den extremsten Vertretern des ersten Typs gehört die "Letzte Generation vor dem Kipppunkt", bekannt auch als "Klimakleber", die mit zum Teil spektakulären Aktionen Politik und Gesellschaft auf die Nerven gehen und, zumindest in Bayern, in die Nähe einer kriminellen Vereinigung gerückt werden.
Die Aktivisten der "Letzten Generation" und die "Klimakleber" berufen sich auf eine Art Klimanotstand
Die "Letzte Generation" ruft den Klimanotstand aus
Klebeaktionen, Hungerstreiks, Attacken auf Gemälde, das sei der einzige Weg, die "Gesellschaft zu beschleunigen", sagt etwa Irma Trommer. Die 27-jährige Schauspielerin wollte vor einem Jahr Happenings der "Letzten Generation" fotografieren und wurde schnell von der Beobachterin zur Aktivistin:
Ich wusste natürlich, dass es die Klimakrise gibt, wie so viele Menschen, und ich wusste auch, dass es ein Problem ist. Und ich wusste, dass die Zeit knapp ist. Aber ich wusste nicht, wie problematisch es wirklich ist und wie krass es ist. Und: Wie dringlich es ist, dass man jetzt wirklich was tut, nachdem jahrzehntelang nichts getan wurde.
Wie die gesamte Gruppe beruft sie sich auf wissenschaftliche Studien zum bevorstehenden Klimakollaps. Es müsse jetzt in kurzer Zeit viel verändert werden, sagt sie, wie viele Vertreter der "Letzten Generation" nimmt sie eine Art "Klimanotstand" an.
Die Regierung geht einigen nicht weit genug
Die Zeit für ausgewogene demokratische Prozesse sei daher sehr gering geworden: "Der Notstand, in dem wir uns befinden, ist die Klimakrise und das enge Zeitfenster, dass sie uns zum Handeln lässt. Die Zukunft, der wir gerade entgegenblicken, besteht aus Krisen und Kriegen und Katastrophen, aus Wasserknappheit und Nahrungsmittelknappheit."
Die Ampelregierung und besonders die Grünen hätten gute Ideen, die aber nicht weit genug gingen, so der Tenor innerhalb der "Letzten Generation". Man habe, sagt Trommer, etwa beim Gebäudeenergiegesetz davor zurückgeschreckt, auch wirklich konsequent Regeln durchzusetzen.
Viele fühlen sich überrollt
Genau das sieht der Politikwissenschaftler Lepenies aber als Problem des zweiten Teils der Gesellschaft, der sich von Veränderungen überrollt und überrumpelt fühlt: Diese Menschen hätten Angst davor, dass der Staat wirklich neue Regeln aufstelle, das Gebäudeenergiegesetz sei nur ein Beispiel, eigentlich sei aber das Politikfeld egal.
"Das Problem ist, dass wir mittlerweile ein Bild von Staatlichkeit haben, was eigentlich heißt: Der Staat lässt uns maximal in Ruhe. Also: Der Staat muss uns auch maximal in Ruhe lassen. Und viel schlimmer noch: Wenn er das nicht tut, ist der Staat eigentlich unser Gegner."
Der Wunsch nach einen Jahr "zum Durchschnaufen"
Der Teil der Gesellschaft, dem die Veränderungen schon jetzt zu schnell gehen, ist wie im Brennglas in Ostdeutschland zu besichtigen. Martin Exler, Mitte 30, ist Unternehmer und sitzt ehrenamtlich im Stadtrat von Zeitz, Sachsen-Anhalt. Die Bürgerbewegung, die er vertritt, hat er mit Freunden auch gegründet, weil ihn die Stärke der AfD in der Region besorgt. Exler spricht vom Strukturbruch in den 1990er-Jahren, dem Ausstieg aus dem Braunkohleabbau, und er bringt sein Lebensgefühl so auf den Punkt:
Ich persönlich wäre froh, wenn ich jetzt mal ein Jahr zum Durchschnaufen hätte. Es war die Coronapandemie, dann kam auf einmal der Ukrainekrieg, die Inflation geht durch die Decke, so an sich schon viele Veränderungen. Der Klimaschutz - man hat das Gefühl, es gibt immer mehr neue Dinge, und es hört irgendwie nicht auf.
Klimaschutzgesetze sind "maßlos und zu schnell"
Sven Bernstein vom Bekleidungsgeschäft gegenüber sieht das genauso. Er könne nicht mehr hoffnungsvoll in die Zukunft schauen, sagt er: "Es sind viele Ängste entstanden, das war früher nicht so, da stand nicht ein Krieg vor der Tür, da standen nicht irgendwelche wirtschaftlichen Probleme an, da ging es nach vorne. Und heutzutage bist du von so vielen fremden Faktoren noch mit abhängig, die man nicht beeinflussen kann. Da weißt du nicht, was ist übermorgen mit dem Strom los, mit der Heizung."
Wie der Kollege findet er Klimaschutz prinzipiell gut, die Klimaschutzgesetze der Ampelregierung aber seien maßlos und zu schnell, eine Überforderung der Bürger: "Die Leute werden verrückt gemacht durch so was, die wissen heute nicht, was morgen passiert."
Wissenschaftler beklagt "Leerstelle in der Politik"
In Zeitz wie in vielen Regionen in Ostdeutschland hat die AfD Zulauf. Ob das daran liegt, dass die Partei die Veränderungsmüden in der Gesellschaft besonders anspricht, will Politikwissenschaftler Lepenies so nicht bejahen.
Es gebe aber seit Jahren eine besondere Leerstelle in der Politik: Viele Maßnahmen seien schlecht erklärt worden, man verhake sich im Klein-Klein und übersehe, auch über die Chancen zu sprechen, die Veränderung mit sich bringe: "Wir sind ja so weit, dass wir mit Transformation eigentlich nur sehen, was alles dann nicht mehr so sein wird wie bisher. Und sehen diese Einschränkung, auch dieses Ängstliche als etwas zutiefst Negatives." In der Politik sei niemand da, der diese Lücke ausfüllen könne. "Wo ist denn jetzt das Positive?"
Die Politik, weniger die Bürger, seien für das Auseinanderdriften, aber auch die Emotionalisierung der Debatte verantwortlich.
Richtige Kommunikation und ein klarer Blick auf soziale Folgen von Veränderung, besonders für die Schwachen in der Gesellschaft, seien dringend notwendig, sagt Lepenies, um das Deutschland der zwei Geschwindigkeiten wieder zusammenzubringen. Denn das ist dringend notwendig: Sowohl die, denen die Veränderungen zu langsam gehen, als auch die, denen sie zu schnell gehen, sehen Deutschland in einer tiefen Krise. Noch hoffen beide Seiten auf eine Kurskorrektur der Bundesregierung, allerdings: Jeder in eine andere Richtung.