Fälle sexualisierter Gewalt Evangelische Kirche sichert Aufarbeitung zu
"Wir übernehmen die Verantwortung." Das versprechen evangelische Kirche, Landeskirchen und Diakone nach der Veröffentlichung einer Studie zu sexualisierter Gewalt. Diese legt ein jahrzehntelanges Versagen auf allen Ebenen offen.
Die evangelische Kirche, alle 20 Landeskirchen sowie die Diakonie sehen sich mit Blick auf eine Studie zur sexualisierten Gewalt offenbar in die Pflicht genommen. "Sexualisierte Gewalt gehört zur Realität unserer Kirche und unserer Diakonie", heißt es in einer Stellungnahme der Landeskirchen, des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie des Bundesvorstands der Diakonie Deutschland. "Wir übernehmen die Verantwortung", kündigten die Beteiligten an.
Die Ergebnisse der Forum-Studie legten ein jahrzehntelanges Versagen auf allen Ebenen und in allen Landeskirchen offen. Betroffene seien nicht gehört, Taten nicht aufgearbeitet, Täter geschützt und Verantwortung nicht übernommen worden. Die Ende Januar vorgelegte Untersuchung zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie hatte mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter für die vergangenen Jahrzehnte dokumentiert.
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl weit höher liegt, weil längst nicht alle relevanten Akten der Landeskirchen und diakonischen Landesverbände eingesehen wurden. Studienleiter Martin Wazlawik sprach von der "Spitze des Eisbergs". Die Nachrichtenagentur KNA schreibt, dass die Forscherinnen und Forscher auf Basis einer Hochrechnung von fast 10.000 Betroffenen ausgingen.
Beratungen zielten auf "klaren Maßnahmenplan"
Mitte Februar wird der kirchlichen Stellungnahme zufolge das Beteiligungsforum - zusammen mit Forschenden - die Ergebnisse und Empfehlungen erstmals beraten. "Im Beteiligungsforum, in unseren Landessynoden und vor Ort in den Kirchenkreisen und Gemeinden sowie auf allen Ebenen der Diakonie werden wir uns mit den Ergebnissen der Forum-Studie und ihrer Bedeutung für unsere Kirche und Diakonie transparent und offen auseinandersetzen", kündigten die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs und Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch an.
Es sei richtig, dass Vertreterinnen und Vertreter der Betroffenen sowie kirchliche und diakonische Beauftragte im Beteiligungsforum "einen klaren Maßnahmenplan für die evangelische Kirche und Diakonie insgesamt entwickeln", heißt es in der Erklärung. Man verpflichte sich zudem zu "einheitlichen Standards der Prävention und Transparenz, einheitlichen Anerkennungsverfahren und einem einheitlichen Prozess der weiteren Aufarbeitung sexualisierter Gewalt".
Derzeit würden in Verbünden von Landeskirchen und Landesverbänden regionale unabhängige Aufarbeitungskommissionen aufgebaut, um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie fortzusetzen.
Konfliktunfähigkeit und Harmoniezwang
Eine bereits 2016 initiierte bundesweite unabhängige Aufarbeitungskommission hatte der evangelischen Kirche schwere Versäumnisse vorgeworfen. Die Selbstwahrnehmung weiter Teile der Kirche als progressiv und liberal sowie ein Harmoniezwang hätten zu dem Mythos geführt, die evangelische Kirche sei ein sicherer Ort, teilte das Gremium in Berlin mit. Es habe ein durch Konfliktunfähigkeit dominiertes "Milieu der Geschwisterlichkeit" gegeben.
Das Gremium ist bundesweit zuständig und wurde vom damaligen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, initiiert. Es soll Ausmaß, Art und Folgen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik und in der DDR untersuchen.
Entschädigungen in Höhe von 300.000 Euro gefordert
Die Kommission kritisierte ebenfalls Fälle von Intransparenz, Verwischung von Verantwortung und ein Fehlen verbindlicher Regeln im Umgang mit Grenzüberschreitungen. Die evangelische Kirche müsse ihre spezifische Haltung einer kritischen - auch theologischen - Reflexion unterziehen und klare und einheitliche Standards für alle evangelischen Träger und Einrichtungen schaffen.
Weiter forderte das Gremium die evangelische Kirche dazu auf, das Recht auf individuelle Aufarbeitung einschließlich des Rechts auf möglichst weitgehenden Aktenzugang kirchenrechtlich zu verankern. Maßstab für die Höhe der Zahlung sollte demnach die Summe von 300.000 Euro sein, die das Landgericht Köln im Juni 2023 einem Betroffenen sexualisierter Gewalt im Bereich der katholischen Kirche zugesprochen habe.