Russische Kriegsdienstverweigerer Letzte Rettung Kirchenasyl
Der Vater soll zum Kriegsdienst: So wie Julia Dotsenko, Maxim Panov und ihre zwei Kinder versuchen einige Russinnen und Russen, in Deutschland Asyl zu erhalten. Doch die meisten werden in andere Länder zurückgeführt.
Julia Dotsenko und Maxim Panov betreten den Innenhof der evangelischen Lutherkirche in Bayreuth: Das Paar aus Sankt Petersburg sucht verzweifelt nach einem Kirchenasyl für sich und ihre zwei Kinder. Die russische Familie floh zu Kriegsbeginn aus ihrer Heimat, Panov hat bereits zwei Einberufungsbescheide erhalten. Obwohl er ein russischer Kriegsdienstverweigerer ist, kann er in Deutschland kein Asyl beantragen. Denn für Flüchtlinge aus Russland gilt das Dublin-Verfahren. Die Familie wurde deshalb nun zur Ausreise aufgefordert, zurück nach Kroatien.
Im November des vergangenen Jahres sorgte Bundeskanzler Olaf Scholz für Aufsehen, als er zusicherte, Russen, die die Einberufung zum Militär wegen des völkerrechtswidrigen Krieges in der Ukraine verweigern, in Deutschland aufzunehmen. "Ich bin dafür, diesen Menschen Schutz anzubieten", sagte der SPD-Politiker in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung". "Natürlich müssen sie vorher eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, damit wir wissen, wen wir in unser Land lassen."
In der Praxis zählt diese Ankündigung jedoch offenbar wenig. Denn weiterhin ist das sogenannte Dublin-Verfahren in Kraft und kommt noch vor einer Asylprüfung zum Tragen: Jeder Geflüchtete muss in dem EU-Land Asyl beantragen, in dem er zuerst registriert wurde. Das gilt auch für Geflüchtete aus Russland. Diese müssen über Drittländer einreisen und werden dabei in der Regel an den EU-Außengrenzen registriert.
Russische Kriegsdienstverweigerer abgelehnt
Flüchtlingsorganisationen kritisieren jedoch: Eine Reihe von EU-Ländern, darunter Kroatien, Bulgarien, Polen oder die baltischen Staaten, erkennen russische Kriegsdienstverweigerer nicht als Flüchtlinge an. Ihnen drohten dann Kettenabschiebungen, im schlimmsten Fall bis zurück an die Grenze, so der Vorwurf.
Auch Dotsenko und Panov fürchten, dass sie in Kroatien keine Anerkennung finden und weiter zurückgeschickt werden Richtung Russland. Die Familie zog nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von Sankt Petersburg nach Kasachstan. Von dort reisten sie Anfang des Jahres über Bosnien und Kroatien nach Deutschland.
Ihr Antrieb: Ein Leben ohne Krieg und einer möglichen Beteiligung ihres Mannes daran. Und ein Leben in einer Demokratie, sagt Dotsenko: "Ich will nicht in Russland wohnen, immer ist Krieg: mit Tschetschenien, mit Abchasien, dann auf der Krim - immer Krieg. Das ist kein gutes Leben für uns und unsere Kinder." Sie ist Fußpflegerin, ihr Mann Juwelier. Für die Familie tickt die Uhr: Sie könnten in den kommenden zehn Tagen jederzeit abgeschoben werden. Dann läuft die mehrmonatige Frist für die Dublin-Rückführung ab.
Kritik an der deutschen Abschiebepraxis
Die evangelische Kirche in Bayreuth würde der Familie gerne helfen. Die Gemeinde hat bereits 22 Kirchenasyle organisiert. Aber so kurzfristig geht es leider nicht, sagt Petra Ernst aus dem Kirchenvorstand der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde: "Wir müssen das vorbereiten und prüfen: Passt das für uns? Geht das mit den zwei Kindern, wie ist es praktisch zu machen? Das muss alles im Vorfeld geklärt werden."
Die Familie muss also weitersuchen. Kritik an der deutschen Abschiebepraxis kommt von Stephan Reichel, dem Vorsitzenden des christlichen Kirchenasyl-Vereins Matteo: "Das ist in jeder Hinsicht erstmal ein Wortbruch der deutschen Regierung. Zum anderen ist es natürlich eine ganz besondere Gefährdung dieser Menschen: Wenn sie zurückkehren nach Russland, dann droht ihnen unter Umständen das Gefängnis oder Lager oder noch Schlimmeres."
Außerdem seien russische Männer, die zum Kriegsdienst eingezogen würden, in gewisser Weise auch Opfer dieses Krieges. Wenn sie sich dann dazu entschieden, ihr Land zu verlassen, ihre Familien, und alle Konsequenzen dazu in Kauf nähmen, müsse man diesen Menschen Asyl geben, findet Reichel. Der Verein erhält in letzter Zeit immer häufiger Anfragen von russischen Geflüchteten für ein Kirchenasyl. Doch es werde immer schwieriger, die Gemeinde für ein Kirchenasyl zu motivieren, sagt der Vereinsvorsitzende.
Auch Dimitri Solovod drohte die Abschiebung: Der 22-Jährige floh im Oktober vergangenen Jahres aus Russland vor dem Kriegsdienst. Seine Flucht führte von Sotschi über Georgien und Bulgarien und bis nach Deutschland. Dort landete er im Ankerzentrum in Bamberg. Die Behörden wollten ihn als Dublin-Fall zurück nach Bulgarien bringen. Ein Kirchenasyl verhinderte seine Abschiebung. Da er nach eigenen Angaben schwul ist, droht dem jungen Russen in seiner Heimat zusätzlich Diskriminierung und Gewalt. Jetzt hat er in Deutschland Asyl beantragt. Er wolle nie wieder zurück nach Russland, sagt Dimitri: "Ich wollte auch diesen Krieg nicht unterstützen."
Asylanträge von russischen Bürgern fast verdoppelt
Auf Anfrage schreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass russische Deserteure oder Kriegsdienstverweigerer Asyl beantragen könnten. Die Dublin-Regelung innerhalb der EU finde aber zeitlich vor einer Prüfung des Asylantrags durch das Bundesamt statt, da sie "unmittelbar geltendes europäisches Recht" sei. In anderen Worten: Dublin-Abschiebungen gelten auch für Russen, die vor dem Krieg fliehen. Wie viele russische Kriegsdienstverweigerer sich ins Kirchenasyl flüchten, dazu hat das Bundesamt nach eigener Aussage keine Zahlen.
Die Behörde bestätigt allerdings, dass die Zahl an Russinnen und Russen, die in Deutschland Asyl beantragten, sprunghaft gestiegen ist. Waren es 2022 noch 2.594, so sind es im laufen Jahr bereits 4.774 Asylanträge - fast doppelt so viele nur bis zur Jahresmitte. Laut BAMF wurde im vergangenen Jahr mehr als jeder dritte Antrag abgelehnt.
Was die Dublin-Rückführungen betrifft, so hat Deutschland 2022 insgesamt 1.613 russische Personen zurückgeführt, 619 davon nach Polen. Das Nachbarland hatte in der Vergangenheit seine Grenzen für russische Bürger geschlossen und einen Asylschutz für Kriegsdienstverweigerer abgelehnt. Es sei nicht auszuschließen, dass sich unter dem Vorwand, vor dem Kriegsdienst zu fliehen, Mitarbeiter russischer Geheimdienste einschleichen könnten, heißt es aus Warschau.