Hintergrund

Hintergrund Fraktionszwang Nur ihrem Gewissen unterworfen?

Stand: 22.10.2015 15:55 Uhr

Er ist vom Grundgesetz nicht vorgesehen - und trotzdem parlamentarischer Alltag: Der Fraktionszwang. Abgeordnete halten sich an die Linie ihrer Fraktion. Wer das beschließt, warum Abgeordnete sich daran halten, und was passiert, wenn sie es mal nicht tun, erklärt tagesschau.de.

Unter Fraktionszwang versteht man die Verpflichtung der Abgeordneten, einem zuvor gefassten Fraktionsbeschluss entsprechend abzustimmen.
In der Theorie gibt es in der Bundesrepublik Deutschland keinen Fraktionszwang - und es darf ihn auch nicht geben: Art 38 Absatz 1 Satz des Grundgesetzes ist da unmissverständlich: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."

Praktisch sieht das aber oft anders aus: Über Entscheidungen wird meist bereits vor der Abstimmung im Bundestag intern in den Fraktionen abgestimmt. Fast alle Mitglieder halten sich an das Ergebnis. Der Fraktionszwang, auch Fraktionsdisziplin genannt, ist in keinem Gesetz und auch nicht der Bundestagsgeschäftsordnung festgeschrieben. Allerdings schreiben ihn Koalitionsregierungen regelmäßig in den Koalitionsverträgen fest.

Ein Argument der Befürworter einer Fraktionsdisziplin ist die Arbeitsfähigkeit der Regierung. Ohne Fraktionsdisziplin könnten Abweichler der Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der Opposition Gesetzesvorhaben blockieren. Außerdem heißt es oft, da Abgeordnete sich im Wahlkampf auf ihre Partei verlassen können, müsste die Partei sich umgekehrt auch auf die Abgeordneten verlassen können.

Mandatentzug ist ausgeschlossen

Ein Abgeordneter, der sich nicht an den Fraktionszwang hält, kann dafür nicht geahndet werden. Auch das regelt das Grundgesetz, in Artikel 46 Absatz 1: "Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden."

Allerdings hat der Abgeordnete bei einem Konflikt mit der Fraktion die Möglichkeit, diese zu verlassen. Umgekehrt kann er bei fraktionsschädigendem Verhalten aus der Fraktion ausgeschlossen werden. Ein Ausschluss unterliegt strengen Bedingungen und ist gerichtlich anfechtbar. Ein ausgetretener oder ausgeschlossener Abgeordneter verliert aber nicht sein Mandat, sondern bleibt als fraktionsloser Abgeordneter im Parlament.

Berlin wurde ohne Fraktionszwang Hauptstadt

In der Vergangenheit haben die Fraktionsspitzen im Deutschen Bundestag immer wieder den Fraktionszwang aufgehoben. Dies war meist der Fall bei Gewissensentscheidungen, denen eine lange und leidenschaftliche öffentliche Debatte vorausging. Ein Beispiel unter vielen war die historische Entscheidung zum künftigen Regierungssitz am 20. Juni 1991, als Abgeordnete aller Fraktionen Berlin zu einer Mehrheit verhalfen.

Wolfgang Schäuble

Die Rede Schäubles in der Hauptstadtdebatte 1991 galt als entscheidender Wendepunkt.

Auch bei der Abstimmung über Präimplantationsdiagnostik am 7. Juli 2011 wurde der Fraktionszwang aufgehoben. Am Ende fand ein Antrag eine fraktionsübergreifende Mehrheit, der PID grundsätzlich verbietet, sie aber bei einer genetischen Veranlagung, die das Risiko einer Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich macht, zulässt.