Interview

Interview mit dem Islamwissenschaftler Kai Hafez "Die Gefahr ist nicht geringer geworden"

Stand: 28.08.2007 17:08 Uhr

Kai Hafez, Jahrgang 1964, ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Erfurt und ausgewiesener Kenner des politischen Islam und der Nahost-Region. tagesschau.de sprach mit ihm zwei Jahre nach den Anschlägen in New York und Washington über die Gefahren, die vom radikalen Islamismus ausgehen und Perspektiven für die islamische Welt.

tagesschau.de: Der 11. September 2001 scheint der Anfang einer weltweiten Anschlagsserie gewesen zu sein. Dahinter sollen zumeist radikale Islamisten stecken. Betreiben wir zunächst ein wenig Begriffsklärung, Wie wären Islam und Islamismus zu unterscheiden und wie der Islamismus in sich zu differenzieren?

Kai Hafez: Der politische Islam insgesamt ist vom Islamismus grundsätzlich zu unterscheiden. Der Islam hat als Religions- und Kulturzusammenhang keine einheitliche politische Vorstellung. Es gibt seit ungefähr 1000 Jahren einen Streit darüber, wie in der Nachfolge des Propheten Mohammed zu regieren ist. Es existiert folglich kein einheitliches politisches Modell, denn das Ideal der Führung durch den Propheten ist im Grunde mit seinem Tod obsolet geworden. Alle nachfolgenden politischen Modelle stehen daher oft zur Disposition.

Islamismus oder islamischer Fundamentalismus bezeichnet eine politische Bewegung, die wir spätestens seit der Revolution in Iran im Jahr 1978/79 kennen. Ihr Ziel ist eine politische Ordnung, die auf einer religiösen Grundvorstellung, dem islamischen Staat mit einer islamischen Verfassung, fußt. Diese Vorstellung eint alle Islamisten.

Allerdings muss man auch hier differenzieren, denn die verschiedenen islamistischen Gruppen haben darüber hinaus keine einheitliche Vorstellung. Vergleicht man zum Beispiel die gemäßigten ägyptischen Muslimbrüder auf der einen und die radikal-islamistische Hamas auf der anderen Seite, wird das augenfällig: Die Muslimbruderschaft steht für eine islamische Demokratie im weiteren Sinne, die verschiedene islamische Parteien und Gruppierungen zulässt. Die radikalen Islamisten treten hingegen für einen islamischen Staat diktatorischen Zuschnitts ein.

Man muss also erstens die islamistischen Gruppen, die die Religion zur Basis des Staates machen von den anderen Ordnungsvorstellungen, die in der islamischen Welt existieren und vor allem in den letzten Jahrzehnten säkular ausgerichtet waren, unterscheiden. Innerhalb der islamischen Welt gibt es sehr viele politische Vorstellungen, die sich nicht auf das religiöse Grundmodell zurückführen lassen.

Zweitens muss man zur Kenntnis nehmen, dass es innerhalb des islamistischen Lagers sehr große Unterschiede gibt und hier – auch schon seit einigen Jahrzehnten – ein extremistischer Flügel existiert. Dieser ist zwar in sich ebenfalls nicht kohärent, unterscheidet sich aber von anderen Islamisten darin, dass es ihm nicht um eine reformatorische, sondern um eine revolutionäre Entwicklung hin zu einem islamischen Staat geht. Notfalls wird diese auch mit Hilfe von Terror und Gewalt durchgesetzt.

tagesschau.de: Sie haben es grade angesprochen – der Islamismus ist ein relativ junges Phänomen. Es scheint aber so, dass diese Bewegung großen Zulauf und Einfluss hat. Wie ist das zu erklären?

Hafez: Der extreme Islamismus hat in den letzten 15 bis 20 Jahren eine gewisse Konjunktur erlebt. Das hängt eng mit einer Reihe von Entwicklungen zusammen. Zunächst haben die traditionellen Islamisten, maßgeblich die Muslim-Brüder in Ägypten, Syrien und Jordanien, eine Spaltungsentwicklung durchgemacht. Ein großer Teil dieser Bewegung ist inzwischen auf dem Weg zur Etablierung, einige Anhänger des Mainstreams sitzen heute sogar in Parlamenten – mehr oder weniger legalisiert. Im Absatz von dieser Mainstream-Bewegung, die die Kooperation mit den etablierten Herrschern gesucht hat, sind die extremistischen Gruppierungen entstanden.

Der zweite Grund für die Entstehung extremistischer Gruppen ist die allgemeine politische Lage in der islamischen Welt: Eine ganze Reihe von Staaten hat aus den unterschiedlichsten Gründen das, was wir das Gewaltmonopol des Staates nennen, nicht mehr in der Hand. Die Staaten sind nicht mehr in der Lage, innerstaatliche oder regionale Konflikte zu beherrschen und die staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten. In der Folge sind sie zu Unterschlupflöchern für Extremisten geworden und sehen sich selbst in einer Frontstellung zu diesen Kräften.

Das gilt für eine ganze Reihe von Staaten. In Ägypten, das gemeinhin als moderat gilt, gibt es eine starke islamistische Bewegung, die zwar mehr oder weniger unter Kontrolle, aber nach wie vor existent ist. Dies gilt auch für die jüngsten Entwicklungen in der Region: Im Irak beispielsweise gibt es im Grunde kein Gewaltmonopol mehr. Das Land wird grade nach dem Krieg zum Sammelbecken für extremistische Kräfte.

tagesschau.de: Wie groß ist die Gefahr, die vom radikalen Islamismus ausgeht? Handelt es sich wirklich um die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts?

Hafez: Durch die beiden Entwicklungen, die ich genannt habe - dem Absatz der radikalislamistischen Gruppen vom Mainstream und dem Verlust der staatlichen Kontrolle - entsteht eine gewisse Gefahr, die vom radikalen Islamismus ausgeht. Verstärkt wird das durch äußere Interventionen - etwa Kriege – die eine chaotische Herrschaftssituation hervorrufen. Das schafft für viele Extremisten ein wunderbares Entwicklungsfeld. In diesen Staaten kann man Unterschlupf finden, denn sie sind nicht beherrschbar. Wir sehen das zum Beispiel an der Neuformierung der Taliban in Afghanistan.

Insofern ist die These, die vor dem 11. September 2001 geäußert worden ist, der islamische Extremismus sei auf einem absteigenden Ast, heute ein wenig obsolet. Die Polarisierung innerhalb der islamischen Welt hat vielmehr zugenommen. Verstärkt wird sie durch Organisationen wie die Al-Kaida, die eine zusätzliche Sympathiewelle hervorgerufen haben. Insofern ist die Gefahr, die vom Islamismus ausgeht, existent. Die Rezepte zu seiner Bekämpfung, die maßgeblich von den USA ins Feld geführt worden sind, nämlich Krieg gegen extremistische Gruppen, gehen bis jetzt offensichtlich nicht auf. Es gibt eine Vernetzung von an sich heterogenen, möglicherweise auch autonomen Gruppierungen, aus der koordinierte Aktionen erwachsen. Die Bedrohung, die vom radikalen Islamismus ausgeht, ist heute sicher nicht geringer als vor den Anschlägen des 11. September.

Andererseits: Wenn man sich anschaut, wodurch die meisten Konflikte entstanden sind und welche Auseinandersetzungen weltweit die meisten Opfer gefordert haben, dann stellt man fest, dass die tatsächliche Gefahr des Islamismus – ungeachtet der sehr plakativen und symbolhaften Terroranschläge vom 11. September – eher gering ist. Im Vergleich mit den Zahlen der Opfer autoritärer Staaten, die nichts mit dem Islamismus zu tun haben und im Vergleich mit den Folgen von Bürgerkriegen und auch äußeren Interventionen ist die Zahl der Todesopfer durch islamistisch motivierte Anschläge eher gering.

Die Gefahr, die von Islamisten ausgeht, hängt eng mit Symbolen zusammen. Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon illustrieren dies. Dadurch kann ein Werte- und Kulturkonflikt heraufbeschworen werden, denn aus westlicher Sicht lässt sich diese Art von islamistischer Gewalt viel besser ideologisieren, als die für uns oft unüberschaubaren Bürgerkriegsszenarien. Möglicherweise ist dies genau das Ansinnen der radikalen Islamisten.

Wenn man über die Gefahr spricht, die vom radikalen Islamismus ausgeht, muss man also drei Dinge voneinander trennen: Die Gefahr ist existent, man kann sie nicht verniedlichen und sie ist nach dem 11. September nicht geringer geworden. Aber sie ist für die westliche Gesellschaft an sich zunächst einmal keine dominante Gefahr. Zweitens ist die Gefahr für einzelne, regionale arabische Staaten allerdings eher größer geworden. Und drittens hat die Bedrohung, die vom Islamismus ausgeht einen starken emotionalen und symbolischen Faktor, der sie größer erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit ist.

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