Ukrainische Offensive in Kursk Russlands Fehler und Russlands Korrekturen
Der bislang erfolgreiche Vorstoß der Ukrainer beruht auch auf einer Fehlkalkulation Russlands, sagt der Militäranalyst Markus Reisner. Aber Russland habe es immer wieder geschafft, umzusteuern. Zugleich schaffe der Erfolg der Ukraine auch ein Dilemma.
ARD: Seit dem 6. August läuft die Offensive der ukrainischen Streitkräfte in Kursk. So eine Operation bedarf aufwendiger Vorbereitungen. Wie kann es sein, dass sie Wladimir Putin trotzdem kalt erwischt hat?
Markus Reisner: Wir haben in den vergangenen mehr als 900 Tagen des Krieges beobachtet, dass Russland immer wieder fatale Fehler macht. Aber Russland schafft es aufgrund der Ressourcenlage, diese mehr oder weniger immer wieder zu korrigieren. Das ist auch jetzt der Fall. Russland hat sich zu 100 Prozent auf den Donbass konzentriert, hatte nicht mehr damit gerechnet, dass die Ukraine noch in der Lage ist, mit eigenen Reserven die Offensive in Kursk durchzuführen. Hat also diesem Abschnitt der Front kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Das Ergebnis sehen wir jetzt am erfolgreichen Vorstoß der Ukraine in den vergangenen 17 Tagen.
"Man braucht enorme Ressourcen"
ARD: Wie kommt es zu diesen wiederholten Fehlern der russischen Armee?
Reisner: Viele von uns haben keine Vorstellung davon, was es bedeutet, 1.200 Kilometer Front zu bewirtschaften - für beide Seiten. Damit man eine Vorstellung bekommt: Wenn man in Berlin ins Auto steigt und 1.200 Kilometer Richtung Süden fährt, kommt man in Florenz an. So lang ist in etwa die Frontlinie. Um also diese Front lückenlos zu überwachen und auch die Fläche dahinter, braucht man enorme Ressourcen.
Aber oft überwachen kleine Einheiten sehr große Räume. Dadurch ergibt sich natürlich, dass gewisse Abschnitte keine Aufmerksamkeit bekommen; möglicherweise auch aus einer gewissen Überheblichkeit heraus. Einer Überheblichkeit der Russen, die gedacht haben, sie sind faktisch auf der Siegerstraße. Das bietet natürlich den Ukrainern die Möglichkeit, genau da anzusetzen.
ARD: Warum gelingt es den Russen im Moment nicht, die Ukrainer wieder von russischem Boden zu vertreiben?
Reisner: Russland hat jetzt das Dilemma, dass es versuchen muss, neue Reserven heranzuführen. Die Absicht der Ukraine war es ja, die Russen zu zwingen, aus den schwer umkämpften Gebieten im Donbass Kräfte freizumachen und diese zu verlegen. Das versucht Russland zu vermeiden, weil es ja aktuell im Donbass Erfolge verzeichnet und das Momentum dort auf seiner Seite hat. Russland versucht also, aus der Tiefe des Landes neue Kräfte heranzuführen, um in der Region Kursk aktiv zu werden. Darum dauert das jetzt so lange, bis diese Kräfte gegen die ukrainische Armee wirksam werden könnten.
Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer ist promovierter Historiker und Rechtswissenschaftler. Der Militäranalyst ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie.
Chancen und Risiken
ARD: Wie realistisch erscheint es Ihnen, dass es der Ukraine gelingt, das eroberte russische Territorium zu halten?
Reisner: Die Ukraine versucht, massiv weiter das Gebiet auszudehnen, stößt aber hier immer mehr auf Widerstand. Das heißt, sie versucht, das bis jetzt gewonnene Gelände zu halten. Es gibt aber eine günstige Stelle, wo es sich anbietet, weiteres Gelände in Besitz zu nehmen. Das ist der Abschnitt westlich des Einbruchsraumes. Warum? Weil er im Norden durch den Fluss Sejm begrenzt wird. Und durch das Sprengen der drei Brücken über diesen Fluss kommt es dazu, dass die Russen gehindert werden, auf diesen Südraum südlich der Brücke überzugehen. Damit hat die Ukraine quasi die Chance, diesen Raum in Besitz zu nehmen und noch signifikant Raum entsprechend unter Kontrolle zu bringen.
Das Dilemma ist: Die Ukraine muss nun drei Fronten bewirtschaften. Sie muss den Donbass mit Soldaten, Ressourcen, Ausrüstung, Gerät versorgen. Sie muss sich kümmern um die Situation rund um Charkiw. Und sie muss sich kümmern um die Situation in Kursk, wo sie auf russisches Territorium übergetreten ist und die Russen sicher alles unternehmen werden, um sie zurückzudrängen. In diesem Ressourcenspiel des Abnutzungskrieges stellt sich die Frage, ob diese Nachhaltigkeit gegeben ist oder nicht?
Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Wo Russland doch Wehrpflichtige einsetzt
ARD: Dem Internationalen Roten Kreuz, aber auch unseren Kollegen vor Ort ist aufgefallen, dass vor allem viele junge russische Soldaten unter den Kriegsgefangenen waren, die die Ukrainer in der Region Kursk gemacht hat. Woran liegt das?
Reisner: Russland hat die Möglichkeit, allein aufgrund seiner fast 145 Millionen Einwohner immer neue Vertragssoldaten zu generieren. Bis Ende des Jahres rechnet man mit 690.000 russischen Soldaten, die gegen die Ukrainer eingesetzt werden sollen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch Engpässe gibt. Man geht beispielsweise davon aus, dass Russland tägliche Verluste von etwa 1.000 Soldaten hat - durch Tod oder Verwundung.
Deshalb hat Russland jene Verbände, die an untergeordneten Abschnitten der Front eingesetzt werden, in denen nicht gekämpft wird, mit Wehrpflichtigen ausgestattet, die oft auch dort ausgebildet worden sind. Konkret in Kursk zum Beispiel wurde das 488. Motorisierte Schützenregiment mit einer Menge an Wehrpflichtigen aufgefüllt - und die wurden faktisch von den Ukrainern überrannt. Dabei wurden auch viele Gefangene gemacht. Nach ukrainischen Angaben teilweise bis zu 100 Gefangene pro Tag.
ARD: Putin hat immer wieder betont, dass keine Wehrdienstleistenden an der Front eingesetzt werden.
Reisner: Das ist jetzt natürlich essenziell, denn damit sind wir bei dem Punkt: Wie nützt die Ukraine dies im Informationsraum? Denn das russische Narrativ ist ja, es ist eine Spezialoperation in der Ukraine, kein Krieg. Es betrifft nur die Berufssoldaten, die Wehrpflichtigen sind hier nicht eingesetzt. Dieses Narrativ gerät jetzt massiv ins Wanken, weil man hier deutlich sieht, dass die Wehrpflichtigen unmittelbar in Kämpfe verwickelt sind, was Putin in Erklärungsnot bringt.
"Die Ukraine muss flink und mobil bleiben"
ARD: Was bedeutet die ukrainische Offensive auf russischem Boden Ihrer Meinung nach für diesen Krieg?
Reisner: Die Ukraine ist immer dann sehr erfolgreich, wenn sie beweglich und hoch mobil agiert. Das Dilemma der Ukraine begann immer dann, wenn dieser Effekt verpufft ist und die Russen es wieder geschafft haben, der Ukraine den Abnutzungskrieg aufzuzwingen, das heißt, die Ukraine faktisch in eine stationäre Kampfführung zu zwingen. Das kann auch jetzt in Kursk passieren.
Wenn also der Vormarsch zu Ende geht und die Ukrainer gezwungen sind, sich aus schlecht vorbereiteten Stellungen zu verteidigen, dann kann es sein, dass die geballte Faust des russischen Abnutzungskrieges wieder zuschlägt. Genau das ist die Herausforderung. Die Ukraine muss mobil und flink bleiben, um erfolgreich zu sein. Aber Russland legt sich faktisch immer darüber mit seinen Ressourcen. Dieses Spiel haben wir jetzt schon über 900 Tage gesehen. Immer wieder ist es den Russen gelungen, trotz Erfolgen der Ukraine faktisch wieder das Momentum zurückzubekommen.
Lehren aus den Weltkriegen
ARD: Der Vormarsch auf Kursk ist für Sie also keine Zäsur, sondern hat eine erschreckende Regelmäßigkeit in diesem Kriegsverlauf?
Reisner: Ich vergleiche den Verlauf manchmal mit dem Ersten Weltkrieg, auch wenn der historische Vergleich hinkt. Natürlich waren damals die historischen Rahmenbedingungen und die Hintergründe der beteiligten Staaten anders. Aber ich finde, es gibt schon sehr viele Parallelen. Das war zum Beispiel 1914 die Euphorie, den Krieg sehr schnell beenden zu können. Bis Weihnachten sind unsere Jungs wieder zu Hause, hieß es damals. Im Vergleich dazu: das Scheitern des Einmarsches der Russen 2022, zugleich der Glaube der Ukrainer, okay, das wird es jetzt gewesen sein. Dann im Vergleich zum Ersten Weltkrieg 1915 die Feststellung, wir sind in einem Abnutzungskrieg. Unsere Ressourcen reichen nicht. Wir müssen industriell mobilisieren, Kriegswirtschaft einführen. Wir müssen Soldaten an die Front bringen. Auch das haben wir faktisch in der Ukraine gesehen.
Dann der Beginn der unterschiedlichsten Offensiven. Das Jahr 1916, das Jahr der elenden Offensiven, wo Hunderttausende gefallen sind, aber auch das Jahr, in dem, wie man heute weiß, das erste Mal versucht wurde, die Fühler auszustrecken für mögliche Friedensverhandlungen. Aber dann hat der Krieg noch einmal zwei Jahre gedauert. Und was das Dilemma ist: Heute weiß man, dass der Erste Weltkrieg eigentlich die Basis war für einen viel schrecklicheren Krieg, der dann 21 Jahre später stattgefunden hat, nämlich der Zweite Weltkrieg, der das alles in den Schatten gestellt hat, was im Ersten passiert ist. Das sollte uns unbedingt Mahnung sein.
Das Gespräch führte Susanne Petersohn, WDR