Ukrainischer Präsidialamtschef Warum ist Andrij Jermak so mächtig?
Eigentlich ist der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes ein Büromanager. Doch Präsident Selenskyj hat Andrij Jermak weit mehr Macht gegeben. Wer ist der Mann - und wie mächtig ist er wirklich?
Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche im UN-Sicherheitsrat sprach, sah man gleich rechts hinter ihm einen Mann in oliv-grüner Kleidung sitzen. Auch bei Gesprächen mit Staatschefs oder wenn er in Frontnähe Soldaten besucht, ist der großgewachsene "grüne Kardinal", wie manche ihn in Kiew nennen, immer in seiner unmittelbaren Nähe zu sehen.
Beim Schweizer Friedensgipfel im Juni stand der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, beim Gruppenfoto gleich in der ersten Reihe zwischen den Regierungschefs. Den damaligen Außenminister Dmytro Kuleba entdeckte man lediglich in der zweiten Reihe. Jermak, der Schatten Selenskyjs, fällt in der Ukraine wie im Ausland seit langem auf.
Andrij Jermak (erste Reihe, zweiter von links) mit anderen Teilnehmern des Ukraine-Friedensgipfels in der Schweiz.
Stärker als der Premier
Der Journalist und kenntnisreiche Beobachter der ukrainischen Politik, Denis Trubetskoy, fasst es so zusammen: "Viel mehr Macht als die, die Jermak hat, geht eigentlich nicht." Es gäbe keinen Zweifel, "dass Jermak der zweitmächtigste Mann in der Ukraine ist". Diese Einschätzung teilt nicht nur die unabhängige ukrainische Presse, sondern man hört es auch aus dem Umfeld des Präsidialamtes.
Diese Menge an Kompetenzen sieht die Verfassung für den Chef des Präsidialamtes einerseits gar nicht vor - andererseits handelt Jermak im Auftrag des Präsidenten. Seine politischen Gegner sehen in ihm den machthungrigen Politiker, der den Präsidenten beerben will.
Auch der gut vernetzte Politikwissenschaftler und Blogger Mykola Davydiuk nennt Jermaks Macht "enorm". Er sei stärker als der Premierminister und jeder andere im Machtapparat. "Er ist der Produzent, der dem Präsidenten dient und der allen Kram für ihn erledigt, damit der Star freie Hand hat und sich bewegen und glänzen kann."
Vom Präsidenten geschätzt, im Land wenig populär
Davydiuk gibt aber zu bedenken, dass in einem Land, das im Krieg ist, mehr Chaos in der Präsidialverwaltung herrsche als zu Friedenszeiten. Das könne eine sonst ungewöhnlich große Machtkompetenz von deren Leitung rechtfertigen.
Jermak scheut wohl keine langen Arbeitstage und dirigiert vor allem mit dem Handy. Er und Selenskyj würden oft im Präsidialamt übernachten, so Journalist Trubetskoy. "Jermak hat keine Ehefrau, er ist immer verfügbar, und das schätzt Selenskyj. Dagegen schätzt er es nicht, wenn seine Minister lange im Restaurant sitzen." Doch im Land selbst sei Jermak wenig populär - obwohl er so omnipräsent ist.
Davydiuk berichtet, dass in Kiew Gerüchte die Runde machten, Premierminister Denys Schmyhal solle ausgetauscht werden, damit Jermak die Position bekleiden könne. Dann würde dieser für seine Entscheidungen auch politische Verantwortung übernehmen müssen. Nach Kriegsende werde man sich mit dem Thema sicherlich genauer auseinandersetzen müssen.
Zusammenarbeit seit der Zeit vor der Politik
Wie der Präsident war der sechs Jahre ältere Jermak nicht in der Politik, ehe Selenskyj 2019 zum Präsidenten gewählt wurde. Da hatten sie bereits zusammen gearbeitet, Jermak als Medienanwalt und Produzent, Selenskyj als Schauspieler und Comedystar, der einige seiner Weggefährten aus der Welt der Unterhaltung mit in die Politik brachte. Darunter auch den heute 52-jährigen Jermak, der anfangs keine herausragende Rolle hatte. Er organisierte im ukrainischen Präsidialamt den Terminkalender seines Chefs. Von fast allen anderen Mitarbeitern der Anfangszeit hat Selenskyj sich mittlerweile getrennt.
Zunächst koordinierte Jermak den Terminkalender des Präsidenten, wurde Unterhändler für den Austausch von Gefangenen mit Russland. Als Selenskyj neun Monate im Amt war, machte er Jermak Anfang 2020 zum Chef des Präsidialamtes. Seitdem war dieser bei allen großen außenpolitischen Prozessen involviert oder steuerte sie sogar für die Ukraine - wie etwa die Verhandlungen mit den sogenannten Partnern der Ukraine, den Friedensgipfel in der Schweiz, die Rückkehr der verschleppten ukrainischen Kinder oder den Austausch von Gefangenen.
Von Außen- bis Personalpolitik
Faktisch, auch hier sind sich Beobachter einig, agiere Jermak als der Außenminister. Trubetskoy fasst es so zusammen: "Er ist Selenskyjs oberster Diplomat, und bei allen Personalfragen hört der Präsident auf ihn." Jermak ist für die Beziehungen zu den USA verantwortlich, er hat einen engen Draht ins Weiße Haus. Im Juli reiste Jermak - nicht der Außenminister - in die USA, um unter anderem mögliche militärische Ziele in Russland zu besprechen und das gemeinsame Vorgehen abzustimmen.
Das Präsidialamt moderiere alle politischen Prozesse sehr eng selbst. Wichtige Themen, wie die nächste Friedenskonferenz, Sanktionen gegen Russland oder ein Sondertribunal, um russische Verbrechen zu ahnden, laufen über das Präsidialamt und mithin über Jermak. Die Ministerien sind bei Feldern, die dem Präsidialamt wichtig erscheinen, untergeordnet.
Jermaks ursprüngliche Aufgabe, den Terminkalender des Präsidenten zu koordinieren und Zugang zu ihm zu gewähren, ist insoweit geblieben, als er und sein Team nach wie vor managen, wen der Präsident trifft. Er hat mithin auch die Kontrolle darüber, wer dem Präsidenten nah ist und wer nicht. Im Ergebnis gebe es daher immer weniger Menschen, die an Jermak vorbei direkten Zugang zu Selenskyj haben, so Trubetskoy.
Überhaupt hat Jermak starken Einfluss auf das Personaltableau des Präsidenten. In der Regierung finde man kaum Politiker - "es sind eher Manager", meint Trubetskoy. Sollte ein Minister oder Amtsträger Jermaks rote Linien überschreiten, beschreibt einer, der dies erlebt hat, dann sei dessen politische Karriere vorbei.
Wenn jemand beispielsweise zu selbstständig agiere oder zu dicht am Präsidenten dran sei und sich damit Jermaks Kontrolle entziehe, ersetze Jermak diese Positionen mit seinen Leuten. Das letzte prominente Beispiel für das Muster war Außenminister Dmytro Kuleba, der Anfang September seinen Platz räumen musste. Sein Nachfolger, Andrij Syibiha, war zuvor einer der Stellvertreter Jermaks im Präsidialamt. Und auch der Minister für Wiederaufbau, Olexij Kuleba, der besonders große Budgets verantworten muss, war zuvor Vizechef im Präsidialamt. Sein Chef dort war Andrij Jermak.