Blaubeerernte in Schweden "Moderne Form der Sklaverei"
Eine Frau pflückt vier Tonnen Beeren, ohne einen Cent zu verdienen. Eine Ministerin spricht von "sklavenähnlichen Zuständen": Schwedische Journalisten haben recherchiert, wie Beerenpflücker ausgebeutet werden.
Waldbeeren gehören zum schwedischen Sommer dazu und sind beliebt. Pur, im Pfannkuchen oder in der Bowl. Dass sie von Saisonarbeitern aus Thailand mühselig gepflückt werden, ist in Schweden kein Geheimnis. Doch was ein Team von Investigativ-Journalisten der schwedischen Zeitung "Dagens Nyheter" (DN) über die Arbeitsbedingungen recherchiert hat, hat eine Debatte ausgelöst, die das Selbstbild des Landes ankratzt.
Schwedinnen und Schweden sind oft stolz auf den Schutz der Arbeitnehmerrechte in ihrem Land. 65 Prozent der Arbeitnehmer sind in Gewerkschaften organisiert (in Deutschland sind es etwa 16 Prozent), alle haben das Recht auf vier Wochen Urlaub am Stück. Aber von so etwas können Saisonkräfte nicht mal träumen, fanden die DN-Reporter.
Viele Beerenpflücker erhielten für drei Monate Arbeit weniger als 50 Euro. Eine Frau pflückte vier Tonnen Beeren, ohne einen Cent zu verdienen. "Was in unseren Beerenwäldern vor sich geht, ist eine moderne Form der Sklaverei", sagt die stellvertretende Arbeitsministerin Paulina Brandberg.
In Schweden gilt fürs Beerenpflücken das Jedermannsrecht - die Erntehelfer müssen also hoffen, dass ihnen in den Wäldern niemand zuvorkommt.
System der Ausbeutung
Das DN-Reporterteam reiste nach Thailand und interviewte 77 Menschen, die in Schweden Beeren gesammelt hatten. Zuvor wurde stets nur über Einzelfälle berichtet. Doch die Recherchen zeigen ein System der Ausbeutung. Die Menschen wurden mit großen Versprechen gelockt: "Die Leute, die kommen, das sind oft Reisbauern, arme Menschen, selbst für thailändische Verhältnisse. Viele wollen mit dem Geld die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen", sagt Reporterin Marianne Björklund. Etwa 3.000 Euro ist auch das vom schwedischen Gesetz so genannte Garantiegehalt für die Saisonkräfte. Nur: Kein einziger der 77 Arbeiterinnen und Arbeiter bekam so viel.
In der nordthailändischen Provinz Nong Khai trafen die DN-Reporter etwa Phatsorn Nantachai. Sie hatte in den sozialen Medien gelesen, dass man, wenn man in Schweden Beeren pflückt, mit knapp 3.000 Euro nach Thailand zurückkehrt.
Phatsorn Nantachai flog von Bangkok nach Stockholm, dort organisierte eine schwedische Firma ihren Aufenthalt, erzählt sie. Ein normaler Arbeitstag begann morgens um halb fünf. Sie erinnert sich, sagt sie den Reportern, dass sie immer froh war, die beengte Unterkunft zu verlassen. Es habe wenige Toiletten gegeben und oft weder Heizung und noch heißes Wasser.
Jeder darf pflücken
Das Pflücken ist mühsam. In schwedischen Wäldern gilt das Jedermannsrecht. Das heißt, jeder darf fast überall pflücken und die Beeren behalten - sogar zu kommerziellen Zwecken. Die thailändischen Arbeiter werden in Bussen in den Wald gefahren. Dort müssen sie Beeren suchen und hoffen, dass die Gebiete nicht schon von anderen abgegrast wurden.
Die Beeren werden dann auf dem Markt oder in Supermärkten verkauft. Phatsorn erzählt, dass sie an 79 aufeinanderfolgenden Tagen mindestens zwölf Stunden Beeren pflückte. Sie schaffte es, mehr als drei Tonnen Beeren zu pflücken.
Wenige Tage bevor sie nach Hause reiste, bekam sie ihren Lohn: 300 schwedische Kronen - etwas weniger als 30 Euro. "Ich habe hart gearbeitet, ich bin jeden Tag mehrere Meilen mit den Beeren auf dem Rücken gelaufen und ich habe nichts dafür bekommen", sagt sie.
Wie kann so etwas sein? Der Grund ist ein Geflecht aus Firmen, die die Arbeit der Thailänder in Schweden organsieren. Personalvermittler aus Thailand arbeiten mit schwedischen Unternehmen zusammen. "Die Firmen ändern oft ihre Namen. Es gibt eine ziemliche enge Verbindung zwischen den schwedischen und thailändischen Firmen", sagt DN-Journalist Alexander Mahmoud.
Zwei Verträge
Für die Pflückerinnen und Pflücker gebe es jeweils zwei Verträge. In dem einen Vertrag stehe der Lohn von etwa 3.000 Euro. Doch der andere Vertrag liste Abzüge fürs Wohnen, Transport und Verpflegung. Außerdem müssten die Pflücker bestimmte Mengen pflücken. "Bei vielen thailändischen Firmen muss man etwa vier Tonnen Beeren pflücken, um auf null zu kommen und dann hat man trotzdem noch Kosten, weil die Arbeiter ihr eigenes Pflückwerkzeug kaufen müssen", sagt Mahmoud.
Die Reporter trafen in einem Dorf 36 Beerenpflücker, die alle für das selbe thailändische Personalvermittlungsunternehmen arbeiteten. Alle sagten, dass sie 300 schwedische Kronen als Gehalt erhalten hätten, bevor sie nach Hause gingen.
Sie schlossen sich zusammen und nannten sich "300-Kronen-Krieger". "Die Leute waren total frustriert und wütend. Die hatten von Sonnenaufgang bis -untergang geschuftet. Die hatten 600 bis 700 Arbeitsstunden", sagt Mahmoud.
Regierung will Gesetz ändern
Die betroffenen schwedischen Unternehmen erklärten gegenüber den Journalisten von "Dagens Nyheter", sie trügen keine Schuld an den schlechten Lohnbedingungen. Sie verwiesen auf die thailändischen Unternehmen, die formal Arbeitgeber seien.
Die Regierung in Schweden will nach den Recherchen das Gesetz ändern. "Es darf in Schweden keine Bereiche geben, in denen Menschenhandel oder Sklaverei ungestraft bleiben können", sagt Paulina Brandberg. "Wir müssen sicherstellen, dass die Behörden die nötigen Instrumente und Ressourcen erhalten, um entschieden dagegen vorgehen zu können. Egal wo im Land das Problem auftritt."
Doch eine Gesetzesänderung braucht Zeit - und es sind laut schwedischen Medien schon wieder etwa 6500 Pflücker aus Thailand in den schwedischen Wäldern unterwegs.