China und Russland "Nackter Pragmatismus" im Fernen Osten
Im Fernen Osten wird besonders deutlich, wie sich die Beziehungen der Nachbarn China und Russland über die Jahrzehnte gewandelt haben. Der Handel floriert - doch China dominiert.
Der laue Sommerwind trägt ein paar Takte von "Katjuscha" zum Ufer. Es ist ein russischer Klassiker - interpretiert auf Chinesisch. China und Russland sind hier in Blagoweschtschensk nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Ausflugsboote ziehen noch spät am Abend ihre Bahnen auf dem Grenzfluss Amur.
Die beiden Uferpromenaden buhlen um Aufmerksamkeit: Die in Blagoweschtschensk mit einer gigantischen russischen Flagge. Jene in Heihe mit rot angeleuchteten Hochhäusern, auf denen goldene Schriftzeichen leuchten, und einem Riesenrad, das als Leinwand dient.
"Alles nur Fassade"
Davon, dass die chinesische Stadt ihren russischen Nachbarn langsam aber sicher in den Schatten stellt, will Andrej Sabijako nichts wissen. Das sei alles nur Fassade, sagt der China-Experte, der in Blagoweschtschensk aufgewachsen ist. Heihe sei eher klein und ziemlich gewöhnlich. Ganz anders als die russische Grenzstadt, die sich auf hohem Niveau weiterentwickele.
Bei allem Patriotismus: Dass sich die Beziehungen zum Nachbarland verändert haben, streitet auch er nicht ab. Vorbei die Zeiten, als man über den Fluss schipperte, um günstig Geburtstage zu feiern oder bowlen zu gehen. Oder um billig einzukaufen: Markenschuh-Imitate, Plastik-Haushaltswaren, Kleidung, Lebensmittel - einfach alles, bestätigt auch Li Lihua, die chinesische Vorzeige-Unternehmerin in Russlands Fernem Osten.
Brücken verbinden die beiden Städte - die transportierten Waren haben sich im Laufe der Zeit geändert.
China vom Importeur zum Exporteur
Früher habe China von Russland Technik gekauft: Lada, Kamaz, Baumaschinen. "Ich erinnere mich, wie eine Russin damals sagte: Wir tauschen unsere Technik gegen eure Nudeln. Technik ist wertvoll. Was sind eure Nudeln oder Thermoskannen wert?", erzählt Li.
Jetzt hätten sich die Zeiten geändert, sagt sie nicht ohne Stolz. Auf Baustellen stehen chinesische Bagger. Russland liefert Soja. Chinesische Autobauer drängen auf den russischen Markt, produzieren direkt in Moskau.
Einseitige Abhängigkeiten?
Der Handelsumsatz sei deutlich gestiegen, sagt Viktor Larin von der fernöstlichen Zweigstelle der Akademie der Wissenschaften. Vor allem, weil China die Lücken fülle, die westliche Unternehmen durch ihre Abkehr vom russischen Markt hinterlassen hätten.
Dass China zudem versuche, russisches Öl und Gas, das nicht mehr gen Westen geliefert werde, möglichst zu Dumpingpreisen zu bekommen, findet er normal. Das sei "nackter Pragmatismus". China kümmere sich um die eigenen Interessen und Russland um seine.
Von einer einseitigen Abhängigkeit will der renommierte Wissenschaftler nichts wissen. Schließlich sei es kein Geheimnis, dass China am russischen Gas- und Öl-Tropf hänge - und damit auch abhängig sei.
Kaum Tiefe in den Beziehungen
Was die Wirtschaftsexperten im Fernen Osten bemängeln, ist etwas Anderes: das Fehlen echter Gemeinschaftsprojekte, auch im Grenzbereich. Zollformalitäten müssten vereinfacht und harmonisiert werden, was aber zunächst eine Modernisierung der russischen Zollämter voraussetze.
Auch beim Ausbau der Infrastruktur gebe es noch Potential. In Blagoweschtschensk wurde im vergangenen Jahr zwar feierlich eine Brücke über den Amur eröffnet. Sie ist ein beliebtes Fotomotiv, das Ziel von Ausflugsbooten. Nur viel Verkehr ist nicht zu sehen. Zu teuer, bemängeln die einen. Es fehle noch an Logistik auf der russischen Seite, sagen andere.
Ungeachtet der in Moskau ausgerufenen Freundschaft und Partnerschaft mit China - selbst im Fernen Osten, wo sich beide Länder nahe sind, vermisst man echte Tiefe in den Beziehungen. Es sind Nachbarn, die sich grüßen, miteinander auskommen, aber letztlich doch nebeneinander her leben.