Rückblick auf 2023 Schwarzes Jahr für Menschenrechtler in Russland
Die Strafen, die in Russland dieses Jahr gegen Oppositionelle und Kritiker verhängt wurden, waren drakonisch. Missliebige Organisationen und Medien wurden verboten. Noch gibt es eine Zivilgesellschaft - aber wie lange noch?
Ein Dutzend Menschen stehen im dichten Schneetreiben vor den Mauerresten eines berüchtigten ehemaligen Gefängniskomplexes in Moskau. Aufmerksam lauschen sie einer jungen Frau, die alte Fotos und Dokumente zeigt. Sie zeichnet das Leben Einzelner nach, um das Grauen des stalinistischen Terrors greifbar zu machen.
So etwas sei heute wichtiger denn je, weil in Russland die Zahl der politischen Gefangenen steige, sagt eine der Zuhörerinnen. "Umso wichtiger ist es jetzt, daran zu erinnern, wie es war. Und wie schrecklich es sein wird, wenn wir wirklich in diese Zeit zurückkehren."
550 politisch motivierte Urteile
Vergleiche mit der Stalin-Zeit - nie waren sie so häufig zu hören wie in diesem Jahr. Mehr als 550 politisch motivierte Urteile hat das Bürgerrechtsportal OVD-Info bis Dezember gezählt. Mehr als im Vorjahr, sagt die Juristin Polina Kurakina. Zudem gebe es härtere Haftstrafen, härtere Urteile, mehr Isolationshaft, strengere und manchmal grausame Haftbedingungen.
Wladimir Kara-Murza, 25 Jahre Straflager; Alexej Nawalny, 19 Jahre; Dmitrij Iwanow, 8,5 Jahre; Sascha Skotschilenko, sieben Jahre; Igor Baryschnikow, Alexej Moskalew, Alexander Nosdrinow - die Liste derer, die wegen vermeintlicher Verstöße gegen Recht und Gesetz in russischen Straflagern gelandet sind, ist mit jedem Monat länger geworden.
Nicht nur prominente Kritiker verurteilt
Doch es sind längst nicht mehr nur prominente Kritiker des Regimes, die für Jahre oder gar Jahrzehnte einem Strafvollzugswesen ausgesetzt sind, das seine Wurzeln im berüchtigten System der sowjetischen Gulags hat. Es sind auch einfache Menschen, die es gewagt haben, ihre Meinung zu sagen, die den Krieg gegen die Ukraine verurteilen, die versucht haben, ihre Mitmenschen aufzurütteln aus der weit verbreiteten politischen Apathie.
Ein falsches Wort bei einer Straßenumfrage, ein weißes Blatt Papier oder ein kritischer Post in den sozialen Medien. Es brauche nicht mehr viel, sagt der Mitgründer der Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow, um in die Mühlen der Justiz zu geraten. Die Menschen würden für private Gespräche belangt - Gespräche über den Krieg auf der Straße oder weil sie mit Nachbarn reden und denunziert werden.
Auch Orlow vor Gericht
Der 70-Jährige steht längst selbst vor Gericht, weil er trotz massiven Drucks seitens der Behörden auch weiterhin öffentlich seine Meinung sagt. Er nennt Putins System faschistisch und totalitär - und den Krieg, der offiziell "militärische Spezialoperation" heißen muss: Krieg.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm inzwischen nicht mehr nur wiederholte Diskreditierung der russischen Streitkräfte vor, sondern Destabilisierung der russischen Gesellschaft. Durch seine kritischen Äußerungen in Interviews untergrabe er die politische und verfassungsmäßige Ordnung Russlands.
Viele Organisationen verboten
Kritik wird als Verrat an Volk und Vaterland gebrandmarkt. Gegen alles und jeden, der nicht auf der vorgegebenen Linie ist, kann vorgegangen werden. Auf der Basis schwammig formulierter, beständig verschärfter Gesetze.
Die Moskauer Helsinki-Gruppe wurde zwangsaufgelöst, das Sacharow-Zentrum verboten, die Menschenrechtsgruppe Agora für unerwünscht erklärt - ebenso wie Greenpeace, der WWF, das Internetportal Meduza, der Fernsehsender Doschd, die Investigativjournalisten des Conflict Intelligence Teams. Unerwünscht ist, was unabhängig agiert, ob im Großen oder im Kleinen.
Auch die Liste derer, die sich bei jedem Post, jeder Email als "ausländische Agenten" selbst diffamieren müssen, wird von Monat zu Monat länger. Lokalpolitiker, Schauspieler, Band-Leader, Autoren, Journalisten, Wissenschaftler, Experten, Blogger - nicht einmal mehr die Anwälte, die auf dem Rechtsweg gegen willkürliche Behördenentscheide oder fadenscheinige Anklagen vorgehen, sind inzwischen noch sicher.
"Noch gibt es die Zivilgesellschaft"
Und doch finden sie sich. Denn noch gebe es die Zivilgesellschaft in Russland, sagt der Menschenrechtler Orlow. Ihr Spielraum allerdings ist eng begrenzt. Oppositionellen, Aktivisten, Medienvertretern und Bürgerrechtlern bleiben oft nur noch ihre Auftritte vor Gericht, um zumindest vor einem kleinen Publikum kritische Fragen zu stellen. Um der Justiz als willfährigem Teil des Systems und der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.
"Warum nur ist unser Land so?", fragt eine alte Dame leise, mit trauriger Stimme. Trotz des Schneetreibens ist sie gemeinsam mit der bunt zusammengewürfelten Gruppe zwei Stunden lang auf den Spuren staatlicher Gewalt in Moskau unterwegs gewesen. Eigentlich, fügt sie an, seien sie doch gar nicht so wenige.
Die zwölf, die sich an diesem Tag zusammengefunden haben, versuchen sich gegenseitig Mut zu machen. Und doch schwingt leiser Zweifel mit. Denn viele rechnen damit, dass der Druck vor der Präsidentschaftswahl im März des kommenden Jahres - so voraussehbar das Ergebnis auch ist - noch einmal zunehmen wird.