Strafverteidiger in Russland "Wir gehören jetzt zur Risikogruppe"
Michail Birjukow ist einer der wenigen Strafverteidiger, die in Russland noch Oppositionelle und Menschenrechtler verteidigen. Dass es fast nie Aussicht auf einen Freispruch gibt, hält ihn nicht ab. Er riskiert damit viel.
Er könnte längst in Rente sein. Oder irgendwo im Ausland, wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen. Aber Michail Birjukow macht weiter. Hochgewachsen, leuchtend weißer Haarschopf, immer in Hemd und Krawatte, immer höflich, nie laut oder effektheischend. Er ist einer der mutigsten Strafverteidiger Russlands, einer der nur noch wenigen, die bereit sind, auch - wie er es lieber vorsichtig ausdrückt - "politisch motivierte Fälle“ zu übernehmen.
Er hat die Gesellschaft Memorial verteidigt, Russlands altehrwürdige Menschenrechtsorganisation, die jetzt als "ausländischer Agent" gilt, und konnte sie dennoch nicht vor der Zwangsauflösung bewahren. Er hat den mittlerweile per Gefangenenaustausch nach Köln abgeschobenen Ilja Jaschin verteidigt, der zu achteinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, er verteidigt bis heute Menschenrechtler und Politikerinnen, die in Russland vor Gericht stehen.
Freisprüche sind die Ausnahme
Freigesprochen werden seine Mandanten nie: Weniger als ein Prozent aller Strafverfahren in Russland enden mit Freispruch. Bei politischen Straftaten liegt die Quote bei null. Für ihn, sagt Michail Birjukow, sei es schon ein Erfolg, wenn er eine Haftstrafe in Arbeitsdienst umwandeln könne, oder in eine Geldstrafe. Das gelinge immer wieder mal. Seine eigentliche Motivation aber sei eine andere:
"Wir wissen, dass wir für die Zukunft arbeiten. Für die Archive. Wir sehen doch, wie man heute die Prozesse aus der Zeit der großen Repressionen unter Stalin aufarbeitet. Auch unsere Prozessakten wird man später untersuchen, die Argumente der Verteidiger, der Angeklagten genau studieren. Und die Urteile der Gerichte. In diesem Wissen bereite ich mich auf jedes Verfahren genau vor."
Auch eine Frage der Ehre
Sein berühmtester Mandant, der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, ist nun in Deutschland - er kam im Zuge des internationalen Häftlingsaustauschs frei. Birjukow führt seinen Prozess dennoch weiter. Da gebe es noch die Klage wegen unrechtmäßiger U-Haft, die werde er zu Ende bringen, das sei eine Frage der Ehre.
Jaschin saß zuletzt in einem Straflager im Gebiet Smolensk ein, 300 Kilometer westlich von Moskau. Jede Woche ist Birjukow dorthin gefahren, oft stundenlang mit Regionalzügen und Bussen unterwegs. Er sei Jaschins einziger Draht zur Außenwelt gewesen. "Anwälte sind in gewisser Weise auch Psychologen", sagt er. Er war auch Jaschins einzige Verbindung zu den Eltern - die durften ihn während mehr als zwei Jahren Haft nur dreimal besuchen.
Humanismus den Vorrang geben
Dass sein Mandant und die anderen politischen Häftlinge ausgetauscht wurden, findet er richtig - selbst um den Preis eines Auftragskillers, des Tiergartenmörders Wadim Krasikow. Deutschland hatte diesen trotz lebenslanger Haftstrafe nach Russland ausfliegen lassen.
Der Austausch sei eine Frage der Menschenliebe - Humanismus müsse immer Priorität haben. Denn die inhaftierten Oppositionellen wie Wladimir-Kara-Mursa oder sein Mandant Ilja Jaschin seien in russischer Haft ihres Lebens nicht sicher gewesen, sagt Birjukow.
Auch Anwälte werden verhaftet
Über die eigene Sicherheit spricht er nur ungern. Dabei ist sein Beruf jetzt ein sehr gefährlicher, oder, wie er es selbst nüchtern formuliert: "Strafverteidiger in politisch motivierten Fällen gehören jetzt zur Risikogruppe. Das wissen wir seit der Verhaftung der Anwälte Nawalnys."
Drei der Anwälte des in Lagerhaft umgekommenen Oppositionellen Aleksej Nawalny sind seit dem vergangenen Herbst mittlerweile selbst in Untersuchungshaft, man wirft ihnen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor. Andere konnten das Land rechtzeitig verlassen.
Was keine Option ist
Ausreisen oder Aufhören sei für ihn keine Option, sagt Birjukow. Obwohl ihn Freunde und Familie immer wieder dazu drängten. Es gebe zu viel zu tun, seine Arbeit werde gebraucht, er sehe sich in der Pflicht. Und die Arbeit werde eher zunehmen, er rechnet mit weiteren Gesetzesverschärfungen.
Derzeit verteidigt er Grigorij Melkonjanz vor Gericht, Kopf der unabhängigen Wahlbeobachtunggruppe Golos. Golos hatte immer wieder Fälle von Wahlbetrug aufgedeckt. Im Verfahren geht es um angebliche Zusammenarbeit mit einer in Russland verbotenen Organisation.
"Konstruiert, und das sehr schlecht", nennt Birjukow die Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft mache sich oft nicht mal mehr die Mühe, schlüssig zu argumentieren.
Dabei seien meisten der Richterinnen oder Staatsanwälte qualifizierte, gut ausgebildete Leute. Sie hätten das Zeug, wirklich Recht zu sprechen. Aber dazu brauche es ein Signal von oben.
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