Angriff auf die Region Charkiw Ist es eine Offensive oder nicht?
Russlands Armee attackiert seit einigen Tagen verstärkt die Region Charkiw und hat mehrere Dörfer eingenommen. Ist das eine Offensive - oder verfolgt Russland andere Ziele? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wo haben die russischen Truppen im Nordosten der Ukraine angegriffen?
In der Nacht zum 10. Mai griffen russische Einheiten ukrainische Stellungen in der Region Charkiw an. Ihre Einheiten überschritten die Grenze rund 45 Kilometer nordöstlich der ukrainischen Großstadt bei Wowtschansk und etwas weiter westlich zwischen den Ortschaften Striletscha und Selene die Grenze, erzielten rasch Geländegewinne und eroberten mehrere Ortschaften. Zuletzt mussten sich die ukrainischen Streitkräfte aus dem Dorf Lukjanzi zurückziehen.
Unklar ist die Lage in Wowtschansk. Dort drangen russische Truppen bis zum Norden der Stadt vor, nach Angaben russischer Militärblogger sogar bis ins Stadtzentrum. Das bestreitet aber die ukrainische Militärführung - die Lage sei unter Kontrolle. Bislang haben die ukrainischen Behörden etwa 6.000 Menschen aus dem Gebiet in Sicherheit gebracht.
Kam der Angriff überraschend?
Mit einem russischen Vorstoß in der Region Charkiw war seit längerem gerechnet worden, da die russische Militärführung hier massiv Truppen zusammengezogen hatte. Ungefähr 35.000 Soldaten der neu formierten Nördlichen Gruppe der Streitkräfte seien entlang der Grenze zur Ukraine in den grenznahen Oblasten Brjansk, Kursk und Belgorod stationiert worden, zitierte das in Washington ansässige Institute for the Study of War (ISW) Anfang Mai den Vizechef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Vadym Skibitskyj - ihre Zahl solle aber noch auf bis zu 75.000 Soldaten steigen. Dem britischen "Economist" sagte Skibitskyj, er rechne mit einem Angriff auf Charkiw und Sumy aus nördlicher Richtung.
Ähnliche Äußerungen kamen auch aus Russland. Mitte April zitierte Russlands Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview Präsident Wladimir Putin, der gesagt hatte, man müsse die Linie verschieben, von der aus die Ukraine russische Ziele treffen könne. Nach seinem Wissen, so Lawrow weiter, spiele Charkiw dabei "nicht die letzte Rolle".
Mit verstärkten russischen Angriffen war auch deshalb gerechnet worden, weil der US-Kongress nach langem Ringen Ende April neue Militärhilfen für die Ukraine gebilligt hatte, die noch in diesem Sommer das Land erreichen sollen. Vorher, so eine häufig geäußerte These, werde Russland versuchen, aus dem Mangel an Munition und Personal der ukrainischen Armee so viel Profit zu schlagen wie möglich.
Ist der Angriff eine Offensive?
Der Begriff "Offensive" wird im Zusammenhang mit den russischen Angriffen im Nordosten der Ukraine zwar häufig verwendet, ist aber nach Ansicht der meisten Beobachter irreführend. Er insinuiere, dass es Russland darum gehe, die Region und die Stadt Charkiw - vor dem Krieg immerhin die zweitgrößte Stadt der Ukraine - einzunehmen. Dieses Ziel stellen viele Analysten aber in Zweifel.
Die Russland-Expertin Margarete Klein sagte tagesschau.de, die in der Region bislang zusammengezogenen Truppen reichten nicht aus, um Charkiw zu erobern. Dazu müsse die russische Führung mindestens eine Teilmobilisierung anordnen.
Das ISW zitiert russische Quellen, wonach rund 300.000 zusätzliche Soldaten für eine Einkesselung Charkiws erforderlich wären - das wären rund 60 Prozent der Streitkräfte, die Russland derzeit geschätzt in der Ukraine einsetzt.
Ähnlich lautet die Einschätzung des Sicherheitsexperten Nico Lange. Auf tagesschau24 sagte er, für die Stadt Charkiw, die seit geraumer Zeit unter massiven russischen Luftangriffen zu leiden hat, habe sich die Lage bislang nicht geändert. Ein Sturm auf die Stadt drohe nicht. Lange verwies neben der Zahl der zusammengezogenen Soldaten auf die geographischen Gegebenheiten der Region. Das Gebiet sei überwiegend flach - "wer dort angreift, wird hohe Verluste erleiden". Und in der Tat sei dies in den vergangenen Seiten auf Seiten der russischen Armee der Fall gewesen.
Das ISW wies überdies darauf hin, dass die russische Armee eine breit angelegte Offensive, die für die Einnahme der Region Charkiw erforderlich wäre, nach Kriegsbeginn 2022 nicht mehr versucht habe. Zudem habe sie mehrere Brücken in der Region bombardiert, die es aber brauche, wenn es ihr jetzt um eine breiter angelegte Militäraktion gehe.
Worum geht es der russischen Armee dann?
In der Ukraine ist die Einschätzung eindeutig: Sie sieht im russischen Vorstoß ein Manöver, um die ukrainischen Streitkräfte zu stressen, zu binden und abzulenken. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Sonntag in seiner Videoansprache, das russische Militär versuche die ukrainischen Kräfte auf das Äußerste zu strapazieren. Ziel sei es, "unsere Kräfte auseinanderzuziehen und die Moral zu untergraben". "Es geht eher um Destabilisierung und um das Binden ukrainischer Kräfte", sagt auch Sicherheitsexperte Lange.
So könnte es das russische Kalkül sein, die Ukraine zu Truppenverlagerungen in den Norden zu verleiten, die dann vom russischen Aggressor zu Vorstößen in anderen Regionen genützt würden - zum Beispiel in der Gegend um Awdijiwka, wo die russische Armee versucht, die strategisch wichtige Ortschaft Tschassiw Jar im Osten der Ukraine einzunehmen, was ihr ein weiteres Vordringen in der Region erleichtern würde.
Der Befehlshaber der Bodentruppen, Oleksandr Pawljuk, sagte dem "Economist" kurz vor Beginn der russischen Angriffe auf Charkiw, die russische Sommeroffensive werde vor allem in den Oblasten Donezk und Luhansk stattfinden. Angriffe in den Gebieten Charkiw und Sumy würden eher dazu dienen, die bereits jetzt stark belasteten ukrainischen Verteidigungslinien auszudünnen.
Gibt es noch andere Theorien?
Eine weitere Theorie, die der Ablenkungsthese nicht widerspricht, sondern sie möglicherweise ergänzt, geht dahin, dass die russische Armee mit ihren Angriffen einen breitere Sicherheitszone entlang der Grenze schaffen will. Das ISW verweist in seiner Analyse vom Montag auf Äußerungen Putins vom März. Eine solche Pufferzone solle Russland vor Angriffen und Vorstößen der Ukraine über die Grenze schützen. Das ISW kommt zu dem Schluss, dass eine solche Zone nun rasch errichtet werden solle und Vorrang habe vor einem tieferen Eindringen in die Region Charkiw. Die ukrainische Armee hatte wiederholt die russische Grenzregion Belgorod angegriffen.
Die Errichtung einer Pufferzone würde laut ISW eine spätere Offensive auf Charkiw nicht nur nicht ausschließen, sondern die Voraussetzungen dafür verbessern. Einstweilen würde es der russischen Armee ermöglichen, mit ihrer Artillerie noch näher an Charkiw heranzurücken und die Stadt noch intensiver zu bombardieren.