Angriffe in der Region Charkiw Ist Russlands Offensive ein Ablenkungsmanöver?
Seit Freitag steht die Region Charkiw unter Dauerbeschuss der Russen. Die erbitterten Kämpfe sind womöglich eine Finte des Kremls, vermutet die Armeeführung in Kiew. Der Hauptschlag könnte woanders stattfinden.
Es sind nur wenige Tüten, die die Menschen aus Wowtschansk im Nordosten der Ukraine auf ihrer Flucht mitnehmen können. Seit Freitag greifen die russischen Truppen in der Region Charkiw an. Schwarze Rauchwolken sind am Himmel zu sehen. Hektisch versuchen ukrainische Polizisten, Anwohner in Sicherheit zu bringen, wie Aufnahmen der Nachrichtenagentur Reuters zeigen.
Auch Kostiantyn Tymchenko klettert in eines der Autos. "Die Kämpfe finden 500 Meter von meinem Haus entfernt statt. Die Russen sind auf der anderen Flussseite", erzählt er. Ukrainische Panzer würden auf das gegenüberliegende Ufer schießen und wieder wegfahren. "Auf der anderen Seite wird die ganze Zeit geschrien. Man kann hören, wie Menschen gefangen genommen werden", sagt er. Er habe irgendwelche militärischen Befehle gehört. "Ständig wird geschossen. Ständig fliegen Granaten - Tag und Nacht."
Soldaten klagen über schlechte Vorbereitung
Mehr als 4.000 Menschen haben die ukrainischen Behörden nach eigenen Angaben in den vergangenen Tagen aus der Grenzregion zu Russland in Sicherheit gebracht. Der Angriff kam früher als erwartet, aber nicht überraschend. Aber einige ukrainische Soldaten sind sauer: Es habe in der Region weder eine erste Verteidigungslinie noch Minenfelder gegeben, berichtet ein Soldat dem Sender BBC. Die russischen Truppen hätten ungehindert eindringen können.
"Kleine russische Gruppen haben versucht, in das Gebiet und die Straßen der Stadt Wowtschansk einzudringen, aber die ukrainischen Streitkräfte haben sie zurückgeschlagen. Die Stadt ist vollständig unter ukrainischer Kontrolle." Das sagt Tamaz Gambraschwili, Leiter der Militärverwaltung von Wowtschansk.
"Manöver, um unsere Truppen zu binden"
Auch das ukrainische Militär gibt zu, die Lage in der Region habe sich in den vergangenen Tagen zugespitzt. Andrij Kowalenko, Leiter des Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation, sieht darin jedoch ein Ablenkungsmanöver der russischen Truppen: "Sie versuchen, einen Teil unserer Armee zu binden und sie dort in die Verteidigung zu zwingen."
So solle die Präsenz im Osten reduziert werden, wo der Hauptschlag des Feindes geplant sei: Es gehe den Russen um Pokrowsk, Tschasiw Jar, Konstantinovka. "Das sind die Richtungen. Der Angriff in Charkiw ist ein Manöver, um unsere Truppen zu binden."
Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Nachschub hat die Truppen nicht erreicht
Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Sonntagabend in seiner Videoansprache, das russische Militär versuche mit dieser Offensive und mit Vorstößen an anderen Frontabschnitten, die ukrainischen Kräfte auf das Äußerste zu strapazieren. Das Ziel hinter den Angriffen sei es, "unsere Kräfte auseinanderzuziehen und die Moral zu untergraben".
Dabei nutzen die russischen Truppen die schwache Position der ukrainischen Truppen aus, meinen Beobachter. Seit Monaten klagen ukrainische Soldaten über massiven Munitions- und Personalmangel. Und auch angekündigte Hilfe aus dem Westen hat die Truppen offenbar noch nicht erreicht.