Britischer Premier unter Druck Rückschläge - doch Johnson will bleiben
Erneute Wahlschlappen, der Rücktritt eines treuen Verbündeten: Für den britischen Premier Johnson wird die Lage immer unbequemer. Experten halten ein "John-Major-Szenario" für möglich.
Es war 5.35 Uhr am Morgen, als Oliver Dowden, Generalsekretär der Konservativen Partei, seinen Rücktrittsbrief bei Twitter veröffentlichte. Kurz vorher waren die Ergebnisse zweier Nachwahlen in Yorkshire und Devon bekannt geworden. Im Norden Englands, in Wakefield, eroberte Labour einen lange gehaltenen Sitz zurück, der 2019 erstmals an die Konservativen gefallen war.
Und im südwestenglischen Devon, im Wahlkreis Tiverton und Honiton, errangen die Liberaldemokraten einen deutlichen Sieg in einem Wahlkreis, den die Konservativen seit mehr als 100 Jahren innehatten. Der neue "Lib Dem"-Abgeordnete Richard Foord erklärte, es sei Zeit für Premierminister Boris Johnson zu gehen:
Im ganzen Land schalten die Liberaldemokraten die Konservativen aus und gewinnen. Menschen, die ihr Leben lang konservativ gewählt haben, sind abgestoßen von Boris Johnsons Lügen und haben die Nase voll.
Dowden kehrt Johnson den Rücken
In Wakefield forderte auch Labour-Parteichef Keir Starmer, die sich selbst auflösenden Konservativen sollten den Weg frei machen - für eine Labour-Regierung. Bei der Misstrauensabstimmung Anfang Juni im Unterhaus, als 41 Prozent seiner Fraktion den konservativen Parteichef Johnson wegen seiner Amtsführung und der Affäre um Lockdown-Partys am Regierungssitz aus dem Amt jagen wollten, hatte Generalsekretär Dowden noch treu zu ihm gestanden.
Doch nach diesen Wahlergebnissen müsse nun jemand Verantwortung übernehmen, schrieb Dowden. Er selbst könne unter diesen Umständen nicht länger im Amt bleiben. Viele Tory-Anhänger seien "verzweifelt und enttäuscht" - und er könne das verstehen.
Oliver Dowden machte bisher Parteiarbeit für Johnson. Nun schmiss er hin.
Johnson ist unterwegs und gibt sich gelassen
In der BBC schilderte der konservative Abgeordnete Geoffrey Clifton-Brown, er habe Sorge, dass er seinen Sitz auch an die Liberaldemokraten verlöre, sollte er sich einer Nachwahl stellen müssen. Die Partei müsse sich wirklich Gedanken machen, ob man mit Johnson noch Wahlen gewinnen könne: "Wir müssen in der Fraktion jetzt entscheiden, ob der Premierminister diese Schlappe ausreichend erklären kann, oder ob wir uns nach einem neuen Premierminister umgucken müssen."
Doch bis Johnson der Fraktion Rede und Antwort stehen muss, wird es noch etwas dauern. Der Premierminister besucht derzeit den Commonwealth-Gipfel in Ruanda, danach geht es weiter zum G7-Treffen nach Deutschland und anschließend noch nach Spanien zum NATO-Gipfel.
Johnson hatte schon im Vorfeld ausgeschlossen, im Fall einer Wahlniederlage zurückzutreten. In der ruandischen Hauptstadt Kigali reagierte er gelassen auf die Ergebnisse:
Seit dem Krieg ist es immer so gewesen, dass Regierungsparteien Wahlen in der Mitte der Legislaturperiode verloren haben. Aber die Menschen haben Sorgen mit der Krise der Lebenshaltungskosten, und wir werden auf die Wähler hören, und wir werden weitermachen, bis wir dieses Tal durchschritten haben.
Mehr als der berühmte Mid-Term-Blues?
Meinungsforscher und Wahlexperte John Curtice von der Glasgower Strathclyde University liest in den Wahlergebnissen allerdings mehr als nur den berühmten midterm blues zwischen zwei Parlamentswahlen. Vor allem in Devon sei zu beobachten gewesen, dass Labour-Wähler zu den Liberaldemokraten geschwenkt seien, um einen Sieg der Konservativen um jeden Preis zu verhindern.
Und das könne den Konservativen gefährlich werden. Ihr Problem sei es nicht nur, dass sie generell mit 33 Prozent gerade sehr niedrige Zustimmungswerte haben, sagt Curtice. Bei Parlamentswahlen könne es vielmehr passieren, dass sich Wähler zusammentun und die Partei wählen, die die Konservativen am ehesten schlagen kann, glaubt der Wahlexperte. "Und das ist genau das, was dem konservativen Premierminister John Major 1997 passiert ist, als er die Wahlen wegen dieses taktischen Wählerverhaltens verlor."
Lib-Dems werden ihren schlechten Ruf offenbar los
Die Liberaldemokraten hatten Anfang des Jahres schon Nachwahlen in Chesham und Amersham sowie in North Shropshire gewonnen und jeweils konservative Hochburgen eingenommen. Galt die Partei nach ihrer Regierungsbeteiligung unter dem konservativen Premierminister David Cameron eine Zeit lang als "toxisch", scheinen die Liberalen, die sich nach wie vor klar gegen den Brexit positionieren, wieder eine Alternative auf dem Wahlzettel zu sein.
Und der Wahlsieg von Labour in Wakefield ist ein Indiz, dass es der Arbeiterpartei gelingen könnte, Sitze der sogenannten red wall zurückzuerobern, die eigentlich Labour-Hochburgen waren und 2019 mit Hilfe von Johnson gewonnen wurden.
Der panische Rückzug des bisher Johnson-treuen Generalsekretärs Dowden in den frühen Morgenstunden, der in seinem Brief seine Loyalität zur Konservativen Partei betonte, ist ein deutliches Signal, dass Johnson immer mehr an Rückhalt verliert.