Annalena Baerbock und WandaTraczyk-Stawska auf dem Friedhof für die Aufständischen Warschaus

79 Jahre Warschauer Aufstand "Ich kann die Deutschen nicht mehr hassen"

Stand: 01.08.2023 07:16 Uhr

Vor 79 Jahren brach der Warschauer Aufstand aus: Die polnische Heimatarmee erhob sich gegen die deutschen Besatzer. Der Tag sei ein Fest gewesen, erzählt Wanda Traczyk-Stawska, die damals im Widerstand kämpfte.

Von Sophie Rebmann, SWR

Den ersten Tag des Warschauer Aufstands hat Wanda Traczyk-Stawska als Fest in Erinnerung: "Plötzlich hingen in allen Toren der befreiten Straßen polnische Flaggen, und die Menschen weinten vor Glück. Ich denke bis heute daran, wie oft ich umarmt und geherzt wurde, wie die Menschen mir Süßigkeiten und Kirschen in die Taschen steckten. Das war der schönste Tag in meinem Leben - zur Zeit der Belagerung."

Identitätsstiftendes Moment

So erzählt es die 94-Jährige auf der Bühne im Teatr Powszechny, einem modernen, politisch engagierten Theater im Warschauer Stadtteil Praga. Die Veranstaltung ist ausverkauft. Schulklassen sind gekommen, aber auch ältere Warschauer und Warschauerinnen.

Sie haben Blumen mitgebracht, die sie der ehemaligen Widerstandskämpferin nach der Veranstaltung überreichen. Traczyk-Stawska, die ehemalige Kämpferin, wird gefeiert wie eine Heldin.

Der Warschauer Aufstand, der nur etwa ein Jahr nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto ausbrach, ist ein identitätsstiftendes Moment für die Warschauerinnen und Warschauer, aber auch für die gesamte polnische Bevölkerung.

Polen gedenkt der Opfer des Warschauer Aufstands

Kristin Joachim, ARD Warschau, tagesschau, 01.08.2023 20:00 Uhr

Wahlloses Morden

Traczyk-Stawska habe damals einen großen Hass auf die Deutschen gehabt, erzählt sie. Er sei in ihr aufgekommen, als die deutschen Soldaten die Straße bombardierten, in der sie wohnte. "Ich rannte hinaus, weil ich sehen wollte, wo die Bombe eingeschlagen war. Das bombardierte Haus war uns gegenüber, auf der anderen Straßenseite."

"Eine Frau rannte heraus, mit einem Baby im Arm. Und dann habe ich gesehen, dass die Deutschen auf das Baby schießen. Ich war Zeugin davon, wie das Kind zerfetzt wurde, die Daunen flogen." Den Anblick habe sie bis heute nicht losgelassen.

Immer wieder habe sie danach miterlebt, wie die Deutschen auf der Straße wahllos Zivilisten erschossen. Sie verboten polnischen Kindern, nach der sechsten Klasse in die Schule zu gehen. In der Straßenbahn durften Polen nur den hinteren Wagen benutzen. "Sie waren Übermenschen und wir Untermenschen", fasst Traczyk-Stawska die Erfahrung zusammen, die sie als Kind im Krieg machte.

 

Schlecht bewaffnet aber todesmutig

Trotz des Verbots ging sie in eine Schule im Untergrund. Sie wurde Pfadfinderin und somit auch Teil der Untergrundbewegung. Ende 1943 schlossen sich die verschiedenen Widerstandsgruppen auf Einwirken der polnischen Exilregierung hin zusammen, und die polnische Heimatarmee Armia Krajowa (AK) entstand.

Sie bereitete den Aufstand vor, an dem sich vor allem die polnische Jugend beteiligte. Schlecht bewaffnet aber todesmutig lieferten sich die Aufständischen Straßenkämpfe, eroberten Straßenzüge und Gebäude.

"Die Waffen haben wir den deutschen Soldaten abgenommen", erzählt Traczyk-Stawska. Dabei blickte sie einem Soldaten ins tote Gesicht und erschrak. "Aus der Ferne sieht man diese Furcht nicht, und das Leid", sagt sie. Aber in dem Moment bemerkte sie, dass auch die Gegenseite bei den Kämpfen litt. Von da an fiel es ihr schwer, zu töten. Der Hass war verschwunden. Und doch kämpfte sie weiter, um selbst zu überleben.

Warschau zerstört, 200.000 Polen getötet

Nach 63 Tagen kapitulierte die Heimatarmee. Schlecht ausgerüstet hatte sie den deutschen Soldaten nicht viel entgegenzusetzen. Tausende Warschauer und Warschauerinnen wurden anschließend zur Zwangsarbeit verschleppt oder in Konzentrationslagern interniert. Die Stadt wurde nahezu komplett zerstört.

Bis zu 180.000 Warschauer und etwa 18.000 aufständische Kämpfer starben während des Aufstands. Deshalb ist das Gedenken an den Aufstand ambivalent: In die Bewunderung und den Dank für den heldenhaften Kampf mischen sich angesichts der hohen Opferzahlen und des ausgebliebenen Erfolgs auch kritische Stimmen.

 

Wanda Traczyk-Stawska und eine weitere polnische Widerstandskämpferin bei einer Demonstration gegen die polnische Regierung.

Wanda Traczyk-Stawska verlassen langsam die Kräfte. "Ich bin schwach wie eine Fliege", sagte sie schon Ende März nach einer Lungenentzündung und anschließenden Corona-Infektion. Hier ist bei einer Demonstration gegen die polnische Regierung im Juni 2023.

Einsatz für Versöhnung

Traczyk-Stawska setzte sich nach dem Krieg für Versöhnung ein. Regelmäßig war sie bis vor Kurzem auf Veranstaltungen mit Jugendlichen und bei Staatsbesuchen deutscher Politiker. Und das, obwohl sie selbst die frühere Feindschaft nicht vergessen kann. "Ich habe einen großen Schmerz in meinem Herzen, weil mein Bruder im Krieg starb, meine Mutter", sagt sie, "aber hassen kann ich nicht mehr."

Nun fordert sie "Nie mehr Krieg" und ist dennoch keine Pazifistin: Die menschliche Würde und eigene Unabhängigkeit gelte es zu verteidigen.

Doch langsam verlassen sie die Kräfte. "Ich bin schwach wie eine Fliege", sagte sie schon Ende März nach einer Lungenentzündung und anschließenden Corona-Infektion, auf ihren Rollator gestützt. Dennoch wird sie an den Feierlichkeiten zum Ausbruch des Warschauer Aufstands teilnehmen, um ihrer gefallenen Freundinnen und Freunde zu gedenken und um daran zu erinnern, dass jeder Mensch gleich viel wert ist. Sie hofft, dass diese Botschaft auch nach ihrem Tod weiterlebt.

Sophie Rebmann, ARD Warschau, tagesschau, 01.08.2023 07:33 Uhr