75 Jahre Warschauer Aufstand "Hunderttausende kamen ums Leben"
Der Warschauer Aufstand gegen die NS-Besatzer 1944 war in der kommunistischen Zeit ein Tabu - heute ist er eine Art Heiligtum der nationalen Erinnerung in Polen. Aber er wird auch kontrovers diskutiert.
75 Jahre danach gerät die Erinnerung an den Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer in den Strudel tagespolitischer Streitereien, etwa um die LGBT-Bewegung. Bereits im März hatte Zofia Klepacka, eine polnische Windsurf-Weltmeisterin, auf Facebook gegen die Unterzeichnung einer LGBT-freundlichen Charta durch die liberal regierte Stadt Warschau protestiert: "Hat mein Opa etwa dafür gekämpft? Ich glaube kaum", schrieb sie. Facebook löschte den Eintrag.
Dieser Tage wiederum löschte ein Abgeordneter der rechtsliberalen Bürgerplattform seinen Eintrag nach einem Proteststurm freiwillig: Er hatte das Symbol der Aufständischen, wegen seiner Form nur der "Anker" genannt, im Web auf einen Regenbogen-Hintergrund gepflanzt und formuliert, die Aufständischen hätten damals auch für Schwule und Lesben gekämpft. Sehr bald stand der Abgeordnete im Zentrum eines Sturms der Empörung im Netz. Im realen Leben meinte der PiS-Europaabgeordnete Adam Bielan:
Es ist sehr schlecht, dass es Politiker gibt, die wirklich jedes Heiligtum anzuspucken in der Lage sind, nur um vor Wahlen an sich über die Medien zu erinnern.
Am 1. August 1944 hatte sich die Armia Krajowa - die Polnische Heimatarmee - gegen die Besatzungsmacht der Nazis erhoben. Nach 63 Tagen war der Warschauer Aufstand blutig niedergeschlagen.
Aufstand ist ein nationales Heiligtum
Auch auf Druck aus den eigenen Reihen distanzierte sich der Politiker von seiner Collage - ihm droht eine Geldstrafe, denn der Aufständischen-"Anker" steht seit einigen Jahren unter besonderem Schutz. Der blutige Aufstand gegen die deutschen Besatzer im Sommer 1944 ist ein nationales Heiligtum. Kontrovers diskutiert wurde er immer, vor allem auch die Frage, ob er nicht eine folgenschwere Fehlentscheidung war.
Etwa 200.000 polnische Soldaten und Zivilisten wurden während der Kämpfe getötet, etwa eine halbe Million anschließend deportiert. Als Rache wurde die polnische Hauptstadt von den Nazis fast komplett dem Erdboden gleichgemacht.
Denn Hilfe von Stalin, dessen Truppen bereits am anderen Weichsel-Ufer standen, war nicht zu erwarten - und die Deutschen reagierten brutal: mit der Ermordung Zehntausender Unbeteiligter und der Zerstörung der halben Stadt auf direkten Befehl Hitlers. Der Aufstand war ein Wahnsinn, aber doch nötig - diese Synthese versuchte der 2018 verstorbene Veteran der Untergrundarmee, Andrzej Wiczynski, Kampfname Antek.
Aus militärischer Perspektive war es eine Tragödie. Hunderttausende kamen ums Leben. Es war schrecklich. Aber psychologisch war der Aufstand unerlässlich. Der Hass der Polen nach vierjähriger Unterdrückung durch die Deutschen war so groß, dass er einfach stattfinden musste, ungeachtet der menschlichen Verluste, der Zerstörung der Stadt. Ich finde, er musste sein.
Welche Rolle soll Geschichte spielen?
Heute sind die letzten, betagten Veteranen uneins in der Bewertung der Gegenwart. Die einen schätzen an der rechtsnationalen PiS-Regierung, dass sie den Aufstand hoch hängt - er passt in die Vorstellung der Regierung, wonach Geschichte Einheit stiften und den Patriotismus stärken soll. Aber es gibt auch Veteranen, die die Regierungspolitik kritisch sehen, Stanislaw Aronson etwa, Kampfname Rysiek, sagte diese Woche in einem Privatsender:
Die Heimatarmee war eine Intelligenz-Organisation. Sie strebte nach Demokratie. Jetzt aber geht Polen in eine andere Richtung, in die Nähe des Faschismus. Die Erziehung der Jugend auf Basis unwahrer Geschichten, von Lügen: Das ist sehr bedenklich.
In einem Punkt immerhin herrscht Einigkeit: Der Besuch des deutschen Außenministers anlässlich dieses für Polen so wichtigen Ereignisses ist von symbolischer Kraft. Heiko Maas lege viel Wert auf Geschichte, lobte sein polnischer Amtskollege. Deswegen sei sein Besuch so wichtig.