Eskalation im Nordirland-Streit London will Brexit-Vertrag brechen
Nach monatelangen Drohgebärden will London die mit Brüssel vereinbarte Brexit-Regelung für Nordirland einseitig ändern. Die EU kündigte Konsequenzen an. Ein Handelskrieg scheint nicht ausgeschlossen.
Vergeblich hatte die britische Außenministerin Liz Truss in Telefonaten mit ihrem irischen Kollegen Simon Coveney und der EU noch versucht, für die britische Haltung in Sachen Nordirland-Protokoll zu werben. Doch eine Annäherung blieb aus. Am Abend veröffentlichte die konservative Regierung dann ihren Gesetzentwurf, Teile des Nordirland-Protokolls auszusetzen.
Man verletze damit keine Gesetze, betonte die Außenministerin: "Wir haben echte Probleme in Nordirland und mit diesem Gesetz kehren wir zu den Prinzipien des Karfreitagsabkommens zurück, das Stabilität bringen soll." Großbritannien schütze so gleichzeitig den EU-Binnenmarkt, halte an den Kernprinzipien des Nordirland-Protokolls fest und bewege sich klar im Rahmen internationaler Gesetze.
Vier Punkte für vereinfachten Handel
Vier Hauptpunkte führt die britische Regierung an, die den Handel zwischen Nordirland und Großbritannien vereinfachen sollen. Mit einer "grünen Spur" sollen Zollkontrollen für Waren wegfallen, die in Nordirland bleiben. Die EU befürchtet, dass auf diese Weise Schmuggelrouten eröffnet werden könnten.
Unternehmen sollen außerdem nach Ansicht der britischen Regierung die Wahl haben, Waren in Nordirland entweder gemäß den Warenvorschriften des Vereinigten Königreichs oder der EU auf den Markt zu bringen.
Zudem müsse Nordirland von den gleichen Steuererleichterungen wie der Rest des Vereinigten Königreichs profitieren dürfen. Und schließlich: Streitigkeiten sollen durch unabhängige Schiedsverfahren und nicht durch den Europäischen Gerichtshof beigelegt werden.
EU droht umgehend mit Konsequenzen
Die EU und vor allem die direkt betroffene Republik Irland halten die einseitigen Änderungen am ausgehandelten Brexit-Vertrag dagegen für einen Bruch internationalen Rechts. Irlands Außenminister Coveney sagte in der BBC: "Großbritannien war gewöhnlich ein Vorbild, was die Einhaltung und Verteidigung internationalen Rechts betrifft." Diesen Ruf beschädige das Land gerade fundamental, "wir steuern auf einen neuen Tiefpunkt der irisch-britischen Beziehungen zu."
"Einseitige Maßnahmen sind dem gegenseitigen Vertrauen abträglich", erklärte unterdessen EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefkovic. Brüssel nehme die Entscheidung der britischen Regierung "mit großer Sorge" zur Kenntnis. Einseitige Änderungen des Texts sieht Brüssel in jedem Fall als Verstoß gegen internationales Recht.
"In einem ersten Schritt" werde nun die Fortsetzung eines im März 2021 gegen die britische Regierung eingeleiteten rechtlichen Verfahrens erwogen, erklärte Sefkovic. "Wir hatten dieses Verfahren im September 2021 im Geiste der konstruktiven Zusammenarbeit ausgesetzt, um Raum für die Suche nach gemeinsamen Lösungen zu schaffen. Das einseitige Vorgehen des Vereinigten Königreichs verstößt direkt gegen diesen Geist."
Bundeskanzler Scholz sprach von einer "sehr bedauerlichen Entscheidung". "Sie ist eine Abkehr von all den Vereinbarungen, die wir zwischen der Europäischen Union und Großbritannien getroffen haben." US-Außenminister Blinken warnte London, die Errungenschaften des Friedensabkommens für Nordirland nicht zu gefährden und dafür "die Verhandlungen mit der EU in gutem Glauben fortzusetzen".
Johnson: Es geht nur um Details
Premierminister Boris Johnson warnte vor einer Überreaktion aus Brüssel, sollte die EU auf die britischen Gesetzespläne mit einem Handelskrieg reagieren. Es gehe schließlich nur um Details: "Wir können Bürokratie an der Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland abbauen, ohne welche an der inneririschen Grenze aufzubauen."
Wie sehr das Nordirland-Protokoll der nordirischen Wirtschaft tatsächlich schadet, ist umstritten. Der Landesteil ist sowohl Mitglied im EU-Binnenmarkt als auch des britischen Marktes. Der Handel über die inner-irische Grenze hat seit Einführung des Protokolls deutlich zugenommen. Stephen Kelly vom Handelsverband Manufacturing NI sieht wenig Probleme mit den geltenden Vereinbarungen:
Die Realität für viele Unternehmen von der Lebensmittelbranche bis zum produzierenden Gewerbe ist, dass das NI-Protokoll hervorragend funktioniert. Wir brauchen ein paar kleine Reformen, aber keine Abrissbirne, wie dieses Gesetz eine ist."
Warnungen des britischen Handelsverbands
Der britische Handelsverband CBI, der landesweit 190.000 Unternehmen vertritt, warnte, der Alleingang der britischen Regierung könne Investitionen verhindern, indem der Gesetzesvorstoß erneut ein Klima der Verunsicherung schaffe, wie es in der Brexit-Phase geherrscht habe.
Auch Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei kritisierte den Gesetzentwurf: "Es gibt kleinere Probleme, aber die könnten wir am Verhandlungstisch lösen - mit Vertrauen. Aber das haben wir ja nicht in den derzeitigen Premierminister."
Nicht nur Zustimmung innerhalb der Fraktion
Innerhalb der konservativen Fraktion stehen längst nicht alle hinter dem Gesetzentwurf. Die Brexit-Hardliner der European Research Group hatten an der Formulierung mitgearbeitet. Andere Tory-Abgeordnete sprechen dagegen von "komplettem Wahnsinn" und fordern mehr Annäherung an die EU in Sachen Brexit oder gar die Rückkehr in den Binnenmarkt, angesichts steigender Inflation und schlechten britischen Wirtschaftsdaten.
Die Regierung hofft dagegen, dass die Queen das Nordirland-Gesetz noch vor der Sommerpause Ende Juli unterschreiben kann. Kritiker erwarten monatelanges Tauziehen etwa auch im Oberhaus.
Regierungsbildung in Nordirland behindert
Der Streit um das Nordirland-Protokoll behindert auch weiterhin die Regierungsbildung in Nordirland. Schon bevor Truss den Gesetzentwurf im Parlament vorstellte, hatte London die pro-britische Partei DUP aufgefordert, nach den Wahlen Anfang Mai in Belfast nun endlich die Regierungsbildung zu ermöglichen. Die DUP hatte eine Beteiligung bisher mit der Begründung verweigert, erst müsse das schädliche Nordirland-Protokoll gekippt werden. Der DUP-Abgeordnete Sammy Wilson erklärte, man wolle nun aber erst noch abwarten, ob das Gesetz auch tatsächlich durchgehe.
Auch im fernen Washington dürfte der Vorstoß der britischen Regierung Stirnrunzeln auslösen. Joe Biden, US-Präsident mit irischen Wurzeln, hatte stets vor Londoner Alleingängen mit Blick auf das Nordirland-Protokoll gewarnt. Ein bilaterales Post-Brexit Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien dürfte durch den neuen Gesetzentwurf nicht gerade beschleunigt worden sein.