Weitere drastische Haftstrafe droht Neuer Prozess gegen Kreml-Kritiker Nawalny
Der Kreml-Kritiker Nawalny muss sich erneut vor Gericht verantworten. Ihm wird dieses Mal unter anderem die Gründung und Finanzierung einer extremistischen Organisation vorgeworfen. Ihm drohen bis zu 30 Jahre Haft.
Nicht in einem ordentlichen Gerichtssaal, sondern direkt im Straflager Melechowo wird Alexej Nawalny dieses Mal der Prozess gemacht - unter anderem wegen Verharmlosung von Faschismus und Aufrufen zu Extremismus, vor allem aber wegen der Gründung und Finanzierung einer extremistischen Organisation. Als solche wurde 2021 nicht nur seine Anti-Korruptions-Stiftung eingestuft. Auf der Liste landeten auch die politischen Stäbe, die der Kreml-Kritiker überall in Russland aufgebaut hatte.
Mehr als 700 Seiten Material hat die Anklage zusammengestellt: 196 Bände, die zu dem führen sollen, was aus Sicht von Nawalnys Mitstreitern längst ausgemacht ist: zu einer weiteren Verurteilung des Oppositionspolitikers. "Am Ende wird der Richter herauskommen und die Entscheidung verlesen: 30 Jahre Straflager unter erschwerten Bedingungen", sagt der im Exil lebende, in Russland zur Fahndung ausgeschriebene ehemalige Leiter der Anti-Korruptions-Stiftung, Iwan Schdanow, in einem YouTube-Video.
Auch Nawalny-Angestellte muss ins Straflager
Dass die Befürchtungen durchaus berechtigt sind, zeigt ein Urteil aus der vergangenen Woche. Lilia Tschanyschewa, die vier Jahre lang den Nawalny-Stab in Ufa geleitet hat, wurde wegen der Gründung beziehungsweise der Beteiligung an einer extremistischen Organisation zu siebeneinhalb Jahren Straflager verurteilt. Dabei hatte sie ihre Arbeit umgehend eingestellt, als sich abzeichnete, dass die Stäbe als extremistisch eingestuft werden würden.
Für Tschanyschewa ist das ein klar politisch motiviertes Urteil - eines, das sie nicht davon abhalten werde, weiter gegen Korruption und Rechtlosigkeit zu kämpfen. Wie Nawalny nutzte auch sie den Prozess, um sich noch einmal öffentlich Gehör zu verschaffen. Sie rief die Menschen dazu auf, sich trotz des Drucks für ein freies, friedliches Russland stark zu machen: "Glauben Sie an sich selbst. Arbeiten Sie für positive Veränderungen. Schreiben Sie Briefe. Ich brauche euch. Andere politische Gefangene brauchen euch."
Solidaritätsaktionen sind gefährlich
Sich offen für politische Gefangene einzusetzen, erfordert in Russland allerdings Mut. Trotzdem gab es Anfang Juni anlässlich des Geburtstags von Alexej Nawalny Solidaritätsaktionen für ihn und andere in mehr 20 russischen Städten. Die meisten dauerten nur wenige Minuten - dann schritten die Sicherheitskräfte ein. Das Bürgerrechtsportal OVD-Info registrierte 126 Festnahmen.
Alexej Nawalny selbst sitzt seit Januar 2021 hinter Gittern, seit seiner Rückkehr aus Deutschland, wo er sich von den schwerwiegenden Folgen einer Vergiftung erholt hatte. Er wurde mehrfach verurteilt. Seine Haftzeit summiert sich inzwischen auf neun Jahre.
Immer wieder Einzelhaft
Die Zeit im Straflager unter erschwerten Bedingungen hat ihm sichtbar zugesetzt. Auch wenn er sich in den sozialen Netzwerken, in denen sein Team seine Posts veröffentlicht, ungebrochen gibt: Der 47-Jährige wirkt ausgezehrt und kränklich, wohl auch, weil er, wie er im Februar vor Gericht zu Protokoll gab, seit Monaten fast ununterbrochen in einer kleinen Strafzelle eingepfercht sei: "Mir wurde gesagt: Aus der Strafzelle kommst du überhaupt nicht mehr raus. Drei Tage Strafzelle, weil ich einen Knopf nicht zugemacht habe. Fünf Tage, weil ich die Hände hinter meinem Rücken hatte. Dann sieben Tage, weil ich mich nicht richtig vorgestellt habe."
Er reagiert mit absurden Briefen an die Verwaltung des Straflagers. Mal, so schreibt er, fordere er ein Megafon, mal ein Känguru. Er versucht alles, um Aufmerksamkeit zu erregen. Um nicht in Vergessenheit zu geraten.
Auch den Prozess jetzt wird er nutzen, um öffentlich Stellung zu beziehen. Vorausgesetzt, es wird zumindest eine Videoübertragung zugelassen. Illusionen über den Ausgang des Verfahrens macht er sich nicht: "Ich werde im Gefängnis sitzen, solange dieses System existiert, solange Putin an der Macht ist." Zu einer regulären Entlassung, so hat er ausgerechnet, käme es - sollte jetzt eine weitere Höchststrafe dazukommen - wohl erst im Frühjahr 2051.