Türkei Stimmung gegenüber Flüchtlingen kippt
Etwa vier Millionen Geflüchtete beherbergt die Türkei, vor allem Menschen aus Syrien. Die Bevölkerung begegnet ihnen zunehmend feindselig, zuletzt gab es Angriffe. Teile der Opposition heizen die Stimmung noch an.
Es sind schreckliche Szenen, die sich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag in der türkischen Hauptstadt Ankara zutragen: Ein Mob aus mehreren hundert Menschen zieht durch den Bezirk Altindag und greift immer wieder Häuser und Geschäfte von Syrern an.
Videos in den sozialen Medien zeigen aufgebrachte und schreiende Menschen, die Steine werfen und mit Gewalt versuchen, in Läden einzudringen. Autos werden beschädigt, Scheiben eingeschlagen. Es kommt zu Plünderungen, berichten mehrere türkische Medien, ein syrisches Mädchen wird am Kopf verletzt, meldet der Chef des türkischen Roten Halbmonds später auf Twitter.
Auslöser für die Angriffe soll der Tod eines 18 Jahre alten Türken gewesen sein, der Medien zufolge mutmaßlich von einem Syrer erstochen worden war, als am Dienstag zwei Gruppen miteinander in Streit geraten waren. Der junge Mann erlag am Mittwoch seinen schweren Verletzungen, kurze Zeit später begannen die Ausschreitungen. Das Gouverneursamt gab im Laufe der Nacht an, die Situation sei unter Kontrolle gebracht worden.
Auch dieses Modegeschäft wurde in der Nacht zum Donnerstag angegriffen.
Bleiben oder gehen - nur wohin?
"Solche Ereignisse erschüttern das Vertrauen der syrischen Bürger in der Türkei tief", sagt Mehdi Davut, Arzt aus Syrien und Vorsitzender der Föderation Syrischer Vereine in Istanbul. "Das führt dazu, dass viele Syrer, die eigentlich in der Türkei bleiben wollen, anfangen darüber nachzudenken, ob sie doch weiter nach Europa sollen oder gar ins zerstörte Syrien zurück."
In der Türkei leben laut offiziellen Angaben rund 3,6 Millionen Syrer, damit hat das Land so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes Land der Welt. Hinzu kommen Hunderttausende Afghanen, von denen der Großteil im Gegensatz zu den Syrern keinen Schutzstatus hat und nicht Teil des EU-Türkei-Abkommens ist.
Toleranz weicht Feindseligkeit
Die Stimmung in der Türkei gegenüber Flüchtlingen verschlechtert sich bereits seit Jahren kontinuierlich. Die wirtschaftlich angespannte Situation hat die anfangs große Hilfsbereitschaft und Toleranz innerhalb der türkischen Gesellschaft vielerorts verschwinden lassen. Bereits Anfang 2019 trendete auf Twitter der Hashtag "Ich will keine Syrer mehr in meinem Land".
Schon damals nutzen Teile der türkischen Opposition die aufgeladene Stimmung für sich. So warf die Chefin der nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, der Erdogan-Regierung vor, zu viel Geld für die Flüchtlinge auszugeben. Syriens Machthaber Assad arbeite wirtschaftlicher, solle er sich doch wieder um seine Landsleute kümmern, so ihr damaliger Tweet.
Auch die größte Oppositionspartei im Land, die CHP, verschärfte ihre Rhetorik gegenüber Geflüchteten und Migranten zuletzt massiv. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu erklärte, er werde alle Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurückschicken, sollte seine Partei an die Macht kommen.
Regierung unter Druck
Gefährlicher Populismus sei das, sagt Mehdi Davut von der Föderation Syrischer Vereine. "Viele türkische Bürger denken inzwischen, dass die Staatskasse wegen der Flüchtlinge leer ist. Dabei arbeiten die meisten und verdienen ihr eigenes Geld." Ein Sprecher der Erdogan-Partei AKP gab nun der Opposition Mitschuld an den jüngsten Vorfällen in Ankara und sprach von den Risiken, die Hate-Speech mit sich bringe. Ein Mittel, dessen sich die AKP regelmäßig selbst gern bedient.
Die Erdogan-Regierung steht innenpolitisch unter Druck und bietet dafür selbst Angriffsfläche. Bei zahlreichen Anlässen betonte der türkische Staatspräsident in der Vergangenheit, wie viel Geld die Türkei für die syrischen Flüchtlinge aufwendet - immer in Richtung Europa gewandt, um politischen Druck aufzubauen, auch hinsichtlich der Gelder aus dem Flüchtlingsabkommen.
Die EU hält still
Die EU ruhe sich währenddessen auf dem bestehenden Abkommen aus, sagen zahlreiche Beobachter. Auch mit Blick darauf, dass derzeit immer mehr Menschen dazukommen, vor allem aus Afghanistan, wo die Taliban nach dem Abzug der NATO den Großteil des Landes unter Kontrolle gebracht haben. Die Herausforderung für ein Land, fast vier Millionen Flüchtlinge zu integrieren, sei allein mit Geldzahlungen auf lange Sicht nicht zu bewältigen. "Das Problem ist, dass die Türkei nach wie vor keine echte Flüchtlingspolitik hat", sagt der syrische Vereinschef Davut. "Ich erwarte daher, dass die Situation für uns Syrer in nächster Zeit noch schlimmer wird."