Armenien und Aserbaidschan EU-Mission an umstrittener Grenze
Im Kaukasus schwelt der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Um eine neuerliche Eskalation zu verhindern, schickt die EU nun eine Mission an die umstrittene Grenze beider Staaten.
Keine vier Wochen ist es her, dass der schwelende Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien erneut eskalierte. Aserbaidschanische Truppen drangen ein weiteres Mal auf armenisches Territorium vor, Tausende Armenier flohen aus der Grenzregion, vermutlich weit mehr als 100 Soldaten wurden auf beiden Seiten getötet.
Die Truppen Russlands, als Schutzmacht in Armenien, verhinderten die Kämpfe nicht. Dort stationierte russische Grenzschützer wurden sogar getroffen. Auch die von Russland geführte Organisation OVKS erfüllt ihre Aufgabe als Sicherheitsbündnis nicht und lässt Armenien allein mit den Angriffen auf sein Territorium.
Zwar war es Russland, auf dessen Druck hin Ende 2020 eine Waffenstillstandsvereinbarung zustande kam und eine Kommission zur Festlegung des Grenzverlaufs gebildet wurde. Auch entsandte Russland 2000 Friedenssoldaten in das Konfliktgebiet Bergkarabach auf aserbaidschanischem Territorium.
Aber es sind zunehmend andere Akteure, die mehr Einfluss ausüben. Dazu zählt die EU. Dessen Ratspräsident Charles Michel brachte Armeniens Premier Nikol Paschinjan und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew in diesem Jahr bereits drei Mal zu Gesprächen in Brüssel zusammen.
EU-Mission im Konfliktgebiet
Beim Europa-Treffen in Prag nun gelang es ihm zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, den beiden Staatsführern die Zustimmung zu einer zivilen Mission der EU abzuringen. Sie soll noch im Oktober aufbrechen und zwei Monate vor Ort im Grenzgebiet sein, um eine neuerliche Eskalation dort zu verhindern.
Die Mission wird auf die armenische Seite der Grenze entsandt. Die aserbaidschanische Seite stimmte laut Statement der EU zu, mit der Mission zu kooperieren, soweit sie betroffen sei.
Energie-Geschäfte mit Aserbaidschan
Die Mission kann auch als Ausgleich dafür verstanden werden, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Energiekommissarin Kadir Simson in den vergangenen Monaten über mehr Gaslieferungen an die EU verhandelten. Zu diesem präsentierten sie sich neben Alijew in Baku und sprachen von Aserbaidschan als einem zuverlässigen Partner der EU.
Das sorgte nicht nur in Armenien für Ängste, nun allein zwischen der Türkei und Aserbaidschan dazustehen. Auch die armenische Diaspora, die in den USA und Frankreich stark vertreten ist, reagierte. Wie groß deren Rolle in beiden Ländern ist, wurde auch deutlich angesichts des Besuchs der Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, kürzlich in Jerewan und der Tatsache, dass zwei Präsidentschaftskandidaten während des Wahlkampfs in Frankreich nach Armenien und eine sogar in das Konfliktgebiet Bergkarabach reisten.
EU-Beobachter im Kaukasus
Die EU ist bereits seit 14 Jahren mit einer Beobachtermission im Südkaukasus präsent: Nach dem Krieg in Georgien 2008 setzte Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy eine Waffenstillstandsvereinbarung mit der Mission als eine Klausel durch. Allerdings erlaubt Russland bis heute den Beobachtern nicht, in den beiden besetzten Gebieten Südossetien und Abchasien zu patrouillieren.
Dem aktuellen Statement nach zu schlussfolgern, wird die neue Mission auch nur auf armenischer Seite aktiv werden können. Und sie wird de facto in einem aktiven Kriegsgebiet platziert, wo es fast täglich zu Schusswechseln kommt, die sich nach Wochen immer wieder zu größeren Gefechten hochschaukeln, bei denen Aserbaidschan am umstrittenen Grenzverlauf auf armenisches Gebiet vorstößt. Offenbar mit dem Ziel, Land einzunehmen und den Druck auf die armenische Seite so hoch zu halten, dass diese den Forderungen Aserbaidschans nachgibt.
Komplexe Interessenlage
In aserbaidschanischen Medien wurde die Vereinbarung mit der EU so dargestellt, dass sich Präsident Alijew einer EU-Mission auf seinem Territorium entgegengestemmt habe und damit die Souveränität Aserbaidschans wahre. Armenien hingegen "übergebe" seine Grenze an die EU, wie es in einer Überschrift eines Nachrichtenportals hieß.
Alijew setzt sich zwar immer wieder mit Paschinjan zusammen, bleibt in seinen Äußerungen aber aggressiv und unnachgiebig gegenüber Armenien. Er weiß die Türkei als politischen und militärischen Verbündeten hinter sich, die allerdings auch nicht an einer massiven Eskalation des Konflikts über die Region hinaus interessiert ist. Das trifft ebenso auf den Iran im Süden zu. Es ist eine weitere Regionalmacht mit Interessen im Südkaukasus, mit denen sie sich aber aufseiten Armeniens sieht.
In Armeniens Hauptstadt Jerewan wird das Engagement der EU erfreut begrüßt. Dies umso mehr, je unsicherer man sich an Russlands Seite fühlt, dessen Militär zu 60 Prozent in der Ukraine eingebunden ist.
Der Militärexperte Richard Giragosian sieht in der Vereinbarung von Prag eine "nachhaltigere, robustere und durchsetzungsfähigere Politik" der EU. Diese setze Ambitionen nun in Taten um, was in der Region bislang selten der Fall gewesen sei. Der Direktor des Zentrums für Regionale Studien in Jerewan sieht in der Militäroperation Aserbaidschans vor knapp vier Wochen eine Fehlkalkulation der Führung in Baku. Es sei ein klarer Akt der Aggression gewesen, "der die Toleranz und Geduld der internationalen Gemeinschaft weit übersteigt" und nun das noch verstärkte Engagement der EU zur Folge hat.
Parallel zum zunächst zwei Monate dauernden Aufenthalt der Mission vor Ort soll weiter unter Vermittlung der EU verhandelt und im Rahmen einer von Russland geführten Kommission an einer Einigung über den Grenzverlauf zwischen beiden Staaten gearbeitet werden.
Die auf dem Tisch liegenden Forderungen Aserbaidschans berühren die Identität und grundlegende Sicherheitsinteressen des Nachbarstaates. De facto sollen die Armenier das Gebiet Bergkarabach aufgeben und darüber hinaus einen von Aserbaidschan kontrollierten "Korridor" über ihr südliches Territorium gewähren. Dies würde einen Teil armenischen Gebietes sowie die Verbindung zu Iran abschneiden.
In Armenien müsste jedoch das Parlament einem Friedensvertrag zustimmen, eine Mehrheit für beide Forderungen ist unwahrscheinlich. Fraglich ist, wie ein für Armenien hinnehmbarer Kompromiss auf Dauer gegenüber Aserbaidschan durchgesetzt werden und wer als sicherheitspolitische Garantiemacht auftreten kann.