EU-Beitritt von Ukraine und Moldau Das Ziel ist klar, der Weg noch lang
Seit Beginn der russischen Invasion haben Ukraine und Moldau darauf gewartet: Die EU startet heute die Beitrittsgespräche. Dafür musste die Ukraine viele Reformen verabschieden - und hat noch immer viel Arbeit vor sich.
Es ist das erste Mal in der langen Erweiterungsgeschichte der EU, dass mit einem Land mitten im Krieg Beitrittsgespräche geführt werden. Unmöglich und ganz unvorstellbar fanden das anfangs einige Staats- und Regierungschefs, Frankreichs Präsident Emanuel Macron an der Spitze: Er hatte die größten Bedenken. Aber auch aus Den Haag und anderen Hauptstädten kamen Zweifel - und Sorgen, dass die strengen Aufnahmeregeln der Union für eine Art Kriegsbonus zugunsten der Ukraine aufgeweicht würden.
In Rekordzeit zum Beitrittskandidaten
Eine, die sich davon nicht beirren ließ, war Ursula von der Leyen. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen erklärte sie, die Ukraine gehöre in die "Europäische Familie". Danach betrieb sie Schritt für Schritt die Annäherung. In Rekordzeit wurde die Ukraine zusammen mit der Republik Moldau zum Beitrittskandidaten ernannt.
Jeder Reformschritt wurde mit einem speziellen Lob der Kommissionspräsidentin bedacht. "Ich möchte Ihnen sagen, wie beeindruckt wir sind", rief sie in Kiew den Abgeordneten im ukrainischen Parlament zu. Man dürfe nicht vergessen, dass die Ukraine in ihrem existentiellen Überlebenskampf "tiefgreifende Reformen" verabschiedet habe.
Etliche Reformen - nur auf dem Papier?
Tatsächlich verabschiedete das Kiewer Parlament ein Reformgesetz nach dem anderen: gegen Korruption und Geldwäsche, gegen die Macht der Oligarchen und für den Schutz von Minderheiten im Land.
Steht das nur auf dem Papier oder kontrolliert die Kommission auch die Umsetzung? Auf die Frage erklärte eine Sprecherin der Von-der-Leyen-Kommission Anfang Juni etwas mehrdeutig, die Umsetzung der Reformgesetze sei natürlich wichtig. "Die Kommission wird die Umsetzung als Teil der regelmäßigen Erweiterungsberichte überwachen."
Das war auf die Zukunft gerichtet und ließ sich so deuten, dass man bisher jedenfalls von außen kaum überwachen konnte, welche Wirkung die Brüsseler Rechtsstaatsvorschriften im Kriegsalltag schon entfachen konnten.
100.000 Seiten voll Arbeit
Das Thema wird aller Voraussicht nach auch die jetzt folgenden Beitrittsverhandlungen prägen. In Luxemburg wird dafür heute der Rahmen festgelegt - eine Art Fahrplan, zunächst für die Ukraine, dann für die Republik Moldau. Es geht darum, europäisches Recht nach und nach und untergliedert in 35 Kapitel in das nationale Recht der beiden Länder zu übertragen.
Dabei handelt es sich um eine Mammutaufgabe. Experten schätzen den "Acquis" - das ist der Fachbegriff für die Rechtsakte und Verordnungen der EU - auf rund 100.000 Seiten. Das ist allerdings nur ein Annäherungswert, der Umfang wächst naturgemäß immer weiter.
Inhaltlich reichen die Rechtstexte von demokratischen Grundpfeilern wie Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz bis hin zu praktischen Alltagsfragen wie Lebensmittelsicherheit und Verbraucherrecht. Für diese Kraftanstrengung brauchten die meisten Neu-Mitglieder bisher viele Jahre, nicht selten verging zwischen Antragstellung und Aufnahme mehr als ein Jahrzehnt.
Kein EU-Beitritt vor Kriegsende
Wann die Ukraine EU-Mitglied wird, dürfte allerdings auch vom Kriegsverlauf abhängen. Selbst wenn es ganz schnell geht - in Kiew spricht man von wenigen Jahren -, gilt eine Aufnahme vor Kriegsende in Brüssel als ausgeschlossen. Die EU würde dann zur Kriegspartei.
Noch ein Problem muss vor der endgültigen Aufnahme gelöst werden - ein Problem, das nur die Europäer selbst durch Reformen beiseiteschaffen können: die Finanzen. Bliebe es bei den bisherigen Regeln der Umverteilung von Fördergeldern, dann hätte die Ukraine nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Anspruch auf bis zu 17 Prozent des Haushalts.
Ein Grund dafür ist das jetzige System der Agrarsubventionen für die großen Ackerflächen - davon hat die Ukraine mehr als alle anderen EU-Mitglieder. Eine solche Umverteilung in Richtung Ukraine, auch das gilt in Brüssel als sicher, dürften die bisherigen Empfängerländer kaum mitmachen.
Und dabei hat die Diskussion über die Verteilung der Kuchenstücke - gibt es mehr kleinere Stücke, oder wird der Kuchen größer? - noch gar nicht begonnen.