EU-Asylkompromiss "Von Abkommen mit Drittstaaten hängt alles ab"
Der EU-Asylkompromiss wird nach Ansicht des Migrationsforschers Koopmans nur funktionieren, wenn Rückführungsabkommen mit Drittstaaten geschlossen werden. Dann, sagt er im Interview, könne es sogar kurzfristig zu weniger irregulärer Zuwanderung kommen.
tagesschau.de: Was ist der Kern der Einigung der Innenminister zur Asylpolitik?
Ruud Koopmans: Die wesentliche Änderung ist das Grenzverfahren und etwas, das in der Berichterstattung bislang weniger aufgefallen ist: dass es künftig die Möglichkeit geben soll, Menschen, deren Asylantrag in diesen Grenzverfahren abgelehnt wurde, auch in sichere Drittstaaten zurückzuführen. Nur so kann das Grenzverfahren überhaupt erfolgreich innerhalb von zwölf Wochen umgesetzt werden.
Ohne die Möglichkeit einer Rückführung in ein sicheres Drittland müsste ein Migrant, dessen Antrag abgelehnt wurde, in das Herkunftsland zurückgeführt werden. Dann reden wir über eine Rückführung in Staaten, von denen wir wissen, dass schon unter dem jetzigen System die Rückführung extrem schwierig ist und auf alle Fälle viel länger als zwölf Wochen dauert. Das setzt voraus, dass man Abkommen mit Ländern über die Aufnahme von Menschen schließt, die an der europäischen Grenze abgelehnt werden. Die haben wir im Moment nicht.
Ruud Koopmans ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet die Forschungsabteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. In diesem Jahr erschien von ihm "Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukrainekrieg".
"Migrationsabkommen wären ein großer Gewinn"
tagesschau.de: Das bedeutet, dass der gestrige Beschluss entscheidend auf dem Abschluss weiterer Abkommen fußt?
Koopmans: Ohne solche Abkommen werden die Pläne nicht funktionieren. Es gibt Abkommen einzelner Staaten wie Dänemark mit Ruanda, die zwar noch nicht umgesetzt sind, aber die Möglichkeit solcher Abkommen zeigen. An diesem Sonntag reist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen mit den Regierungschefs der Niederlande und Italiens nach Tunesien, um über ein solches Migrationsabkommen zu verhandeln. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Es wäre ein großer Gewinn, wenn es gelingen würde, die Migrationsströme durch die Sahara und von Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien zu reduzieren - auch aus humanitären Gesichtspunkten. Denn das ist die Route, auf der die weitaus meisten Toten zu bedauern sind.
tagesschau.de: Was bedeutet dieses Grenz- und Drittstaaten-Verfahren für Migranten und Flüchtlinge, die aus Ländern mit einer hohen Schutzquote fliehen, zum Beispiel aus Afghanistan?
Koopmans: Hier kommt es auf den genauen Wortlaut des Beschlusses an, der noch nicht vorliegt. Hier deutet sich an, dass es einzelnen EU-Staaten freigestellt wird, auch Flüchtlinge aus Staaten mit einer höheren Schutzquote in das Grenzverfahren aufzunehmen, insbesondere, wenn sie über einen sicheren Drittstaat eingereist sind. Das könnte bedeuten, dass auch Menschen aus Syrien oder Afghanistan an der italienischen Grenze abgelehnt werden könnten und dann Schutz in Tunesien bekommen. Aber das steht unter dem Vorbehalt des endgültigen Textes.
"Grenzverfahren ohne Abkommen funktionieren nicht"
tagesschau.de: Es gibt solche Grenzverfahren schon jetzt in den Hotspots in Griechenland. Hat sich dieses Verfahren so sehr bewährt, dass man es jetzt ausweitet?
Koopmans: Nein. Was diese Hotspots in Griechenland zeigen, ist gerade, dass ein solches Grenzverfahren ohne Abkommen mit Drittstaaten nicht funktionieren wird. Dann wird eine Abschiebung abgelehnter Asylbewerber extrem schwierig, und die Menschen bleiben lange Zeit in den Hotspots. Das wiederum kann dazu führen, dass dort eine katastrophale und aus humanitären Gesichtspunkten unvertretbare Situation entsteht, wie jetzt in den griechischen Hotspots. Gibt es Abkommen mit Drittstaaten, wäre die Zeit, die Menschen in den Grenzlagern verbringen müssten, kurz. Und man würde einen Anreiz wegnehmen, sich auf den gefährlichen Weg durch die Sahara und übers Mittelmeer zu begeben. Davon hängt alles ab.
"Das ist keine angemessene Kompensation"
tagesschau.de: Wenn ein Land wie Italien den Solidaritätsmechanismus auslöst, weil zu viele Flüchtlinge ankommen, soll innerhalb der EU ein Verteilungsschlüssel greifen. Staaten, die sich daran nicht beteiligen, wie zum Beispiel Ungarn oder Polen, sollen pro Flüchtling, den sie nicht aufnehmen, rund 20.000 Euro zahlen. Ist das ein angemessener Ausgleich?
Koopmans: Nein, das ist weit unter den tatsächlichen Kosten, die die Aufnahme, Unterbringung und Integration von Flüchtlingen mit sich bringen. Es ist ein langjähriger Prozess, bis die meisten Flüchtlinge imstande sind, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das ist also keine angemessene Kompensation. Man muss auch schauen, ob Polen und Ungarn tatsächlich zahlen.
Alles steht und fällt damit, ob es mit diesem neuen Verfahren gelingen wird, die Zahl der irregulären Migranten maßgeblich zu reduzieren. Nur dann bleibt die Zahl der Flüchtlinge für Italien oder Griechenland in einem vertretbaren Ausmaß. Auch nur dann wäre gewährleistet, dass Länder wie die Niederlande oder Deutschland bereit sind, ihren Anteil zu übernehmen, wenn die Zahlen zu groß werden. Anderenfalls wird es bestimmt auch dort Akzeptanzprobleme geben.
"Das Asylrecht wird dadurch nicht abgeschafft"
tagesschau.de: Kritiker nennen den Beschluss einen Frontalangriff auf das Asylrecht, so wie wir es in Deutschland kennen. Ist das eine zulässige Interpretation?
Koopmans: Das ist eine völlig aus der Luft gegriffene Übertreibung. Das Asylrecht wird dadurch nicht abgeschafft. Jeder hat nach wie vor das Recht, sein Asylgesuch geltend zu machen. Es gibt nur für bestimmte Gruppen ein schnelleres Prozedere. Und auch das findet immer noch unter juristischer Aufsicht und nach den Regeln des Völkerrechts statt. Und die Rückführung findet auch nur in Herkunftsstaaten oder Staaten, die sicher sind, statt. Wenn es dann zu einer Rückführung in einen sicheren Drittstaat kommt, gelten natürlich auch die Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Das einzige, das möglicherweise außer Kraft gesetzt würde, vor allem im Zusammenhang mit den sicheren Drittstaaten, wäre das Prinzip, dass Asylsuchende das Recht hätten, in Europa Schutz zu bekommen. Es gibt aber kein international verbrieftes Recht, in der Europäischen Union oder auch in einem bestimmten Zielland wie Deutschland Asyl zu beantragen. Es gibt ein international gesichertes Recht auf Schutz und auch auf Überprüfung eines Schutzgesuchs. Aber wo dieser Schutz realisiert wird, ist nicht Gegenstand des internationalen oder europäischen Rechts. Da wird etwas verteidigt, das überhaupt kein Menschenrecht ist.
"Ausnahme untergräbt die Wirksamkeit"
tagesschau.de: Deutschland hat durchgesetzt, dass Minderjährige nicht in das Grenzverfahren kommen, ist aber mit dem Wunsch gescheitert, Familien mit Kindern aus diesem Verfahren herauszuhalten. Wie gravierend ist das?
Koopmans: Es wäre mir lieber gewesen, wenn die Entscheidung umgekehrt gefallen wäre. Das Problem mit der Ausnahme für Minderjährige ist, dass der Großteil der Migranten Männer im entweder jugendlichen Alter oder jungen Erwachsenenalter sind. Und gerade diejenigen aus Ländern mit geringen Schutzquoten verstecken oder schmeißen ihre Identitätspapiere weg und geben sich dann oft als Minderjährige aus, obwohl sie es gar nicht sind. Diese Ausnahme untergräbt so die Wirksamkeit der Grenzverfahren erheblich.
"Abkommen könnten kurzfristig geschlossen werden"
tagesschau.de: Wie ist Ihre Prognose, Herr Koopmans? Reden wir in zwei Jahren wieder über dieselben Fragen oder bewerten wir dann eine tatsächlich ganz andere Flüchtlingspolitik?
Koopmans: Wenn es bei den bisher bekannt gewordenen Absprachen bleibt, wenn sie ohne Änderungen durch das Europaparlament kommen und in nationale Gesetzgebung umgesetzt werden, was mehrere Jahre dauern wird, dann wird sich nichts ändern. Und dann werden wir nicht nur in zwei Jahren, sondern schon früher über die gleichen Probleme reden wie vor dem Asylkompromiss.
Alles hängt davon ab, ob jetzt die folgenden Schritte unternommen und die Abkommen mit den Herkunftsstaaten und sicheren Drittstaaten abgeschlossen werden. Wenn das gelingt, sind wir in zwei Jahren in einer ganz anderen Situation. Möglicherweise können die Abkommen mit den Drittstaaten sogar kurzfristig geschlossen werden.
Das hat auch die Einigung der EU mit der Türkei von 2016 gezeigt. Von Verhandlungsbeginn bis Verhandlungsabschluss hat es nicht mal sechs Monate gedauert. Dann könnte es noch in diesem Jahr zu einer Reduzierung der irregulären Zuwanderung kommen. Das ist der Königsweg.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de