Vergewaltigungsprozess von Avignon "Die Scham muss das Lager wechseln"
Der Vergewaltigungsprozess von Avignon findet weltweit Beachtung. Das Opfer, Gisèle Pélicot, ist zu einer Symbolfigur der Frauenbewegung geworden. Und Frankreich erlebt eine Debatte um die "Kultur der Vergewaltigung".
Es ist ein Ritual wie ein Manifest: Morgens, wenn Gisèle Pélicot das Gerichtsgebäude betritt, brandet Applaus auf. Nahezu täglich warten Dutzende, manchmal an die Hundert Menschen auf die zierliche Frau mit den kinnlangen rotbraunen Haaren, um ihr und ihrem Kampf Beifall zu spenden, Anteil zu nehmen und ein Zeichen zusetzen, als wollten sie sagen: "Das hier geht uns alle an."
Viele äußern die Hoffnung, dass dieser Prozess eine nachhaltige Wirkung haben wird. Große Aufmerksamkeit hat er längst.
Eine überraschende Forderung zu Prozessbeginn
Dafür hat das Opfer selber gesorgt. Gisèle Pélicot war es, die völlig überraschend zu Beginn des Prozesses forderte, dass die Gerichtsverhandlung öffentlich stattfinden solle. Was bis dahin noch unter "Sex & Crime" in der Rubrik Vermischtes behandelt und ausgerechnet von seriösen Medien mit spitzen Fingern angefasst worden war, avancierte zu einem weltweit beachteten Prozess, zu dem Pressevertreter etwa aus den USA, Spanien oder Indien anreisten.
Plötzlich sei dies nicht mehr der Prozess von 51 Männern gewesen, die darauf setzen konnten, dass ihre abscheulichen Taten in den vier Wänden des abgeschotteten Gerichtssaals bleiben würden, berichtet Adèle Bossard, die als Regionalkorrespondentin von Radio France schon mit dem Fall befasst war, als sich noch kaum jemand für dieses Verbrechen interessierte: "Plötzlich war dies der Prozess einer Frau, die binnen weniger Wochen zur feministischen Ikone geworden ist."
Gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit
Gisèle Pélicots Konterfei als Grafitto ist tausendfach geteilt und abgedruckt worden. Ihre Forderung "Die Scham muss das Lager wechseln" wandelt sich zum Schlachtruf feministischer Frauen. Es gab Solidaritätsmärsche.
Und Gisèle Pélicot machte einen weiteren ungeheuerlichen Schritt: Als der Vorsitzende Richter entscheidet, die Video- und Fotoaufnahmen der Vergewaltigungen nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu zeigen, legen Gisèle Pélicot und ihre Anwälte Einspruch ein.
Der öffentliche Druck steigt, bis der Richter seine Haltung revidiert. Seit rund einer Woche werden die Aufnahmen immer dann im Gerichtssaal gezeigt, wenn Verteidiger und oder Staatsanwältin dies zur Beweisführung fordern.
Ein Fall "für die Gesellschaft insgesamt"
Während die Angeklagten ausnahmslos wegschauen, sobald die schummrigen Sequenzen auf dem Bildschirm erscheinen, könne die Gesellschaft die Augen nicht mehr verschließen, sagt der Anwalt von Madame Pélicot, Antoine Camus.
Man müsse diese Videos mit offenen Augen ansehen. "Einerseits um die Taten zu beurteilen und andererseits um diesen Fall zu einem Fall der Gesellschaft insgesamt zu machen." Genau das passiere gerade. "Insofern hat Gisèle Pélicot ihren Kampf schon gewonnen", erklärt Camus.
"Voyeurismus?" - "Die Realität!"
Eine seiner Widersacherinnen ist Nadia El Bouroumi. Die Verteidigerin zweier Angeklagter kritisiert: "Diese Videos wieder und immer wieder zu zeigen, ist Voyeurismus." Im Nebensaal, wo das Publikum den Prozess verfolgt, gebe es keinerlei zusätzliche Erklärungen. Das sei sehr brutal.
Das sei eben die Realität, widerspricht ihr ausgerechnet Beatrice Zavarro, die Verteidigerin des Hauptangeklagten, Dominique Pélicot. Sie nimmt die Journalisten und Journalistinnen, die aus dem Gerichtssaal berichten, gegen Angriffe in Schutz: "Das ist kein Voyeurismus der Medien. Denn es geht hier um jemanden, der alle seine Taten gefilmt hat. Der Voyeurismus ist also Kern dieses Falls."
Aber ist es angemessen, einen Liveticker aus dem Gerichtssaal zu schreiben, so wie es der öffentlich-rechtliche Radiosender France Info immer wieder tut? Regionalkorrespondentin Adèle Bossard findet: Ja, der Liveticker werde von vielen Menschen verfolgt und löse genau das ein, was Gisèle Pélicot wollte, nämlich, "dass die Öffentlichkeit diesen Prozess miterleben kann".
In Mazan kam es nach Prozessbeginn zu einem Marsch der Solidarität mit Gisèle Pélicot.
Die Grenzen des Ertragbaren
Auf diese Weise finden verstörende Sätze und Ausflüchte der Angeklagten ihren direkten Weg in die Öffentlichkeit. Ein Mehrfachtäter in der Glasbox erklärt etwa: "Es war nur ein Spiel, ich wollte dem Ehepaar Pélicot nur eine Freude bereiten."
Entgeistert und erschüttert verlässt Gisèle Pélicot zum ersten Mal überhaupt in diesem Prozess den Saal. Bis dahin hatte sie nach außen unglaublich gefasst den Ausführungen der Angeklagten zugehört.
Nur zwei Meter von ihnen entfernt muss sie in dem engen Gerichtssaal die körperliche Nähe ihrer Peiniger aushalten, bleibt sitzen, während die Videos und Fotos gezeigt werden, gewährt keinem der Angeklagten einen direkten Blickkontakt. Jedes Mal, wenn einer von ihnen versucht, sich bei Madame Pélicot zu entschuldigen, schaut sie demonstrativ weg. Mit dieser mutigen Haltung ist sie für viele Französinnen zur Heldin geworden.
Jetzt werden grundsätzliche Fragen gestellt
Der Prozess hat in Frankreich die ganz großen Fragen aufgeworfen: In den Feuilletons und Diskussionsrunden melden sich Feministinnen, Juristinnen und Juristen zu Wort. Es geht um toxische Männlichkeit, ob die Definition von Vergewaltigung neu gefasst und das explizite Einverständnis zur sexuellen Handlung in die Gesetzgebung aufgenommen werden muss.
Bisher steht dort, dass man immer dann von Vergewaltigung ausgehen müsse, wenn die sexuelle Handlung "mit Gewalt, unter Zwang, durch Bedrohung oder Überrumplung" herbeigeführt worden sei.
Gisèle Pélicots Anwalt Camus und andere Juristen warnen: Das Einverständnis zum Gradmesser zu machen, könne eine Falle sein. Denn dann hänge alles vom Verhalten des Opfers ab und nicht mehr vom Verhalten des Täters.
Zahlen des Grauens: Auf der Demonstration in Mazan zeigt eine Frau ein Plakat zum Ausmaß von Vergewaltigungen in Frankreich.
Keine "Monster", sondern "Herr Jedermann"
Bleibt die Frage, welchen Beitrag die Männer zu dieser Debatte leisten können. Blandine Deverlanges von der Feministinnengruppe "Amazonen von Avignon" ist fast jeden Tag im Gerichtssaal. Sie hofft, dass dieser Prozess der Gesellschaft die Augen dafür öffnen wird, dass es sich bei den Angeklagten, wie sie sagt, nicht um Monster handele, sondern schlicht um Männer, um "Herrn Jedermann".
Sie nennt es die "Banalität der Täter". Wie könne es eigentlich sein, fragt sie, "dass es Herrn Pélicot gelungen ist, in einem Radius von zehn bis 20 Kilometern rund um dieses kleine Dorf Mazan im Süden Dutzende Männer zu rekrutieren, die bereit waren, seine Frau zu vergewaltigen?".
Die Antwort liege auf der Hand: "Jede Frau in Frankreich ist umgeben von potentiellen Vergewaltigern, die bereit wären, zur Tat zu schreiten, wenn sie sich sicher wären, nicht entdeckt zu werden." Deverlanges und ihre Mitstreiterinnen fordern: Schluss mit der "Kultur der Vergewaltigung", mit der "culture du viol".
Das Schweigen der Politik
Auffällig laut schweigen derzeit Politiker und Politikerinnen. Nur der neue Justizminister hat sich in einem kurzen Satz dafür ausgesprochen, das Einverständnis zur sexuellen Handlung in den betreffenden Gesetzesparagraphen aufzunehmen.
Gisèle Pélicot nehme diese Debattenbeiträge wahr und sehr ernst, versichert ihr Anwalt. Innerlich liege sie in Trümmern, setzt er hinzu.
Äußerlich aber wirkt sie stark. Auch dann noch, wenn sie abends nach stundenlangen Verhandlungen den Gerichtssaal verlässt, erhobenen Hauptes. Wieder gibt es Applaus, wieder zollt ihr die Menge Respekt. Gisèle Pélicot bedankt sich bei den Wartenden. "Im Namen aller Frauen", wie sie sagt.