Streit um EU-Spitzen "Fraktionen müssen sich an die eigene Nase fassen"
Im EU-Parlament ist die Verärgerung über das Personalpaket für die EU-Spitzenposten groß. Der EU-Experte Daniel Gros kritisiert dagegen die Fraktionen: Mit mehr Einigkeit hätten sie sich durchsetzen können.
tagesschau.de: Die Einigung beim EU-Personalpaket und somit auch für die Spitze der EU-Kommission fand nun doch wieder in Hinterzimmern statt. Ist das Spitzenkandidaten-Prinzip damit am Ende?
Daniel Gros: Dieses Spitzenkandidaten-Prinzip war ja eigentlich für eine Situation gedacht, in der es einen klaren Sieger gibt. Und wenn es den gegeben hätte, wäre das jetzt sicher nicht so gekommen. Aber wenn die Parteienlandschaft so zersplittert ist wie jetzt, dann wird es immer wieder Einigungen in Hinterzimmern geben müssen.
Denn wenn es drei, vier verschiedene Gruppierungen gibt, die alle den Anspruch auf das Spitzenamt anmelden, dann ist es sehr schwer, eine Person auszuwählen. Und wenn man dann sieht, dass im Grunde genommen nicht nur eine Person, sondern drei, vier gleichzeitig auszuwählen sind, dann kann man das schlecht demokratisch auf offener Bühne austragen.
Ich würde also nicht per se sagen, dass man dieses Prinzip wieder begraben kann. Aber die Umstände waren diesmal ungünstig. Und wenn man realistisch ist, werden sie wohl auch in Zukunft ungünstig bleiben.
Klares Ergebnis, schnelle Einigung
tagesschau.de: Wäre es bei Einigkeit des Parlaments wirklich nicht so gekommen? Immerhin war seit Monaten klar, dass Frankreich und Spanien insbesondere den Kandidaten der stärksten Fraktion, der EVP, nicht mittragen.
Gros: Wenn wir das mal mit der Situation von vor fünf Jahren vergleichen: Damals gab es die Spitzenkandidaten ja zum ersten Mal, und viele unter den Staatschefs waren sehr skeptisch gegenüber dem Spitzenkandidaten-Prinzip. Einige waren sogar der Meinung, dass es gegen den EU-Vertrag verstößt. Und trotzdem hat es damals funktioniert, einfach weil es einen klaren Sieger gab und vor allem, weil die Zweitplatzierten sich dann relativ schnell mit dem Sieger geeinigt haben. Und das ist diesmal nicht passiert.
Ich bin davon überzeugt, wenn sich etwa diesmal drei Parteien auf einen Kandidaten geeinigt hätten, dann wäre es sehr schwer für die Staatschefs gewesen, sich darüber hinweg zu setzen.
tagesschau.de: Die Empörung der Fraktion über dieses Hinterzimmergeschachere ist also gar nicht gerechtfertigt?
Gros: Nein. Ich würde sagen, die sollten sich mal an die eigene Nase fassen. Hätten sich drei Fraktionen zusammengetan, die eigenen Egos zu Hause gelassen und sich auf eine Person und vielleicht ein Programm geeinigt, dann hätte sich das Parlament auch durchsetzen können.
Kandidaten mit viel Ähnlichkeit
tagesschau.de: Dennoch scheint dieses Prinzip von mehr Beteiligung im Wahlkampf ja für Rückenwind gesorgt zu haben. Die Wahlbeteiligung war hoch, die Bürger haben sich für Europa interessiert. Ist das, was jetzt passiert, nicht wieder ein Rückschritt, weg von einem demokratischen Europa?
Gros: Es ist ein gewisser Rückschritt. Aber das gibt es in jeder Demokratie, auch in Deutschland, wenn beispielsweise aufgrund von Koalitionen eine Partei den Kanzler stellt, die nicht die meisten Stimmen bekommen hat.
Ich glaube, das wirkliche Problem lag darin, dass man diesen Wahlkampf eher auf den Kontrast zwischen den Pro-Europäern und den Europa-Skeptikern fokussiert hat. Da sahen alle vier der proeuropäischen Kandidaten relativ ähnlich aus. Deswegen hatte der Bürger keine so große Wahl. Es ging eher um Schattierungen, die viele Bürger gar nicht so mitbekommen haben.
tagesschau.de: Sie befürchten also nicht, dass die Europa-Verdrossenheit der Bürger dadurch wieder größer wird?
Gros: Nein. Man wird jetzt sehen müssen, wie dieses Team der beiden Frauen, Ursula von der Leyen und Christine Lagarde - denn sie soll die zweitwichtigste Position in der EU bekleiden - Europa voranbringt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Europäer am Ende, wenn beide reüssieren, sagen werden, 'so schlecht war das nicht'.
Enthaltung als Makel?
tagesschau.de: Jetzt gibt es eine deutsche Kandidatin für die Position der EU-Kommissionschefin, die aber ausgerechnet von der eigenen Regierung nicht gestützt wird. Haftet ihr da ein Makel an?
Gros: Im Gegenteil. Ich würde sagen, es ist ein Vorteil. Denn sie kommt nicht mit dem Ballast nach Brüssel, da zu sein, um deutsche Interessen zu verteidigen, geschickt sozusagen von der Bundesregierung. Sondern sie kommt mit einer sehr viel unabhängigeren Aura.
Außerdem hatten wir das schon einmal bei Ratspräsident Donald Tusk. Den hat die polnische Regierung ebenfalls nicht unterstützt, hat sogar gegen ihn gestimmt. Das zeigt, dass es nicht immer darum geht, einem Land einen Posten zuzuschustern, sondern dass man auf die Person achtet.
tagesschau.de: Sigmar Gabriel kritisiert, dass es eigentlich einen Kabinettsbeschluss hätte geben müssen für diesen Vorschlag von Ursula von der Leyen und fordert seine Partei zum Koalitionsbruch auf. Was ist dran an dieser Kritik?
Gros: Das stimmt weder formal noch substanziell. Jedes Land, das sagt die Verfassung, kann einen eigenen Kommissar nominieren. Aber wer für das Präsidentenamt der Kommission vorgeschlagen wird, entscheidet der Europäische Rat. In diesem Fall kam der Vorschlag ja von der französischen Regierung. Da braucht es überhaupt keinen deutschen Kabinettsbeschluss. Wenn der französische Vertreter die Hand hebt und sagt, 'ich habe da eine Idee', ist es völlig egal, was die SPD innerhalb der Koalition in Deutschland darüber denkt. Dass Deutschland sich dann der Stimme enthalten hat, ist vor dem Hintergrund wiederum vollkommen richtig.
Lehren aus Versäumnissen ziehen
tagesschau.de: Was sind die Lehren aus der jetzigen Situation? Wie kann man verhindern, dass in fünf Jahren derselbe Konflikt wieder ausbricht?
Gros: Die Parteien müssen einsehen, dass es keinen Sinn ergibt, wenn vier, fünf Fraktionen Spitzenkandidaten haben, und alle liegen so um die 20 Prozent. Es sei denn, alle Parteien verständigen sich darauf, dass am Ende alle denjenigen mit den meisten Stimmen unterstützen. Selbst wenn das sehr wenige sind. Und das wurde versäumt. Wenn das Parlament des Spitzenkandidaten-Modell durchsetzen möchte, muss es sich vorher auf so ein Prozedere einigen und dazu stehen.
tagesschau.de: Halten Sie es für wahrscheinlich, dass das nun vereinbarte Personalpaket so durchgeht, wie geplant?
Gros: Es wird für das Parlament sehr schwer werden, die erste für dieses Präsidentenamt nominierte Frau abzulehnen. Allerdings haben wir mehr als 60 Prozent neue Parlamentsmitglieder. Wie die sich verhalten werden, ist schwer vorherzusagen.
tagesschau.de: Was, wenn das Parlament nicht zustimmt?
Gros: Dann kann der Europäische Rat nur sagen, bitte überdenkt das nochmal. Wir halten diese Frau wirklich für die Beste, und ansonsten kippt das ganze Paket. Und von der Leyen müsste dann zum Parlament gehen und für sich werben. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass der Europäische Rat hier nachgibt.
Das Gespräch führte Sandra Stalinski, tagesschau.de