Fünf Jahre nach Türkei-Putsch Für Erdogan "ein Geschenk Gottes"
Vor fünf Jahren putschten in der Türkei Teile der Armee gegen Präsident Erdogan. Ein Rückblick auf eine dramatische Nacht, die zur Zeitenwende wurde - und viele ungeklärte Fragen hinterließ.
Am Anfang - gegen 22 Uhr Ortszeit am 15. Juli 2016 - sind es nur Gerüchte. Am Anfang sind es kreisende Hubschrauber über Istanbul und Ankara. Die Gerüchte verdichten sich, als Kampfflugzeuge über die beiden großen Metropolen des Landes donnern.
Soldaten riegeln den Atatürk-Flughafen in Istanbul ab, sie besetzen strategisch wichtige Positionen und sperren die Brücken über den Bosporus. Neben der ersten Brücke lag damals das ARD-Hörfunkstudio. Geschichte in Echtzeit: Die Korrespondenten werden Augen- und Ohrenzeugen der blutigen Ereignisse in einer der dunkelsten Nächte der Geschichte der türkischen Republik.
Ein Scharfschütze schießt von einem Brückenpfeiler auf Zivilisten. Das verhindert jedoch nicht, dass immer mehr Menschen auf die Brücke strömen. Die Lage droht auf entsetzliche Weise zu eskalieren, denn die Demonstranten werden immer heftiger unter Feuer genommen. Gegen 23.30 Uhr Ortszeit meldet sich Präsident Recep Tayyip Erdogan via FaceTime im Privatsender "CNN Türk" zu Wort. In einem dramatischen Aufruf appelliert er an das Volk, auf öffentliche Plätze und zu den Flughäfen zu kommen und - wörtlich - "dieser kleinen Gruppe die Stirn zu bieten".
Ein Panzer auf einer Bosporus-Brücke in Istanbul in der Nacht des Militärputsches am 16. Juli 2016 - hier wie auch an anderen Orten wurden die Putschisten bald gestoppt.
Tausende auf der Straße, Hunderte sterben
Zu Tausenden folgen die Menschen seinem Ruf. Sie klettern auf Panzer, stoppen Lastwagen, reden auf Soldaten ein. Kampfbomber durchbrechen derweil die Schallmauer über Istanbul, Scheiben bersten, Menschen zittern, sie befürchten das Schlimmste für sich und ihr Land. In Ankara wird das Parlament bombardiert, greifen Putschisten Polizeistationen und Kasernen an. Hubschrauber feuern mit Leuchtspurmunition auf Menschen, auf Autos, auf alles, was sich unter ihnen bewegt.
Landesweit sterben in dieser Nacht 249 Zivilisten. Weit mehr als 1000 weitere werden verletzt. Die Putschisten geraten bald in die Defensive und geben auf. 130 Personen seien festgenommen, ein General sei getötet worden, verkündet Regierungschef Binali Yıldırım am frühen Morgen. Es ist der Auftakt einer großen "Säuberung".
Bei den Anhängern Erdogans ist am Tag nach dem Putsch der Jubel groß - überall im Land laufen da schon die "Säuberungen".
Erdogan ergreift die Gelegenheit
"Dieser Aufstand und diese Bewegung", verkündet Erdogan noch in der Putschnacht, "sind ein Geschenk Gottes für uns. Warum? Weil diese Aktion uns die Gelegenheit gibt, die türkischen Streitkräfte zu säubern".
Nicht nur die Streitkräfte werden "gesäubert". Gut 180 Medien wurden seitdem dicht gemacht, rund 150 Journalisten wurden inhaftiert, mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen, mehr als 20.000 Angehörige und Mitarbeiter der türkischen Streitkräfte offiziellen Angaben zufolge aus dem Dienst entfernt. Der gängigste Vorwurf der Staatsanwälte lautet dabei: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Für den türkischen Präsidenten stand schon in der Putschnacht fest, wer mutmaßlich hinter dem gescheiterten Staatsstreich steckt: die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Diese Annahme ist nicht unbegründet. Der "Hizmet" genannten Bewegung ist es gelungen, Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft zu besetzen. Das geschah nicht geheim, denn immerhin, so gesteht Erdogan unmittelbar nach dem Putschversuch, hätten die früheren Präsidenten und Regierungschefs Turgut Özal, Süleyman Demirel und Bülent Ecevit "und sogar wir - obwohl wir politisch unterschiedliche Ansichten haben - wir haben alle mit guten Absichten diese Bewegung unterstützt".
Anfänglich gemeinsame Interessen
Haben die türkischen Führungen - allen voran die islamisch-konservative AKP-Regierung - wirklich unwissentlich die Natter am eigenen Busen genährt? Auf keinen Fall, so der Oppositionspolitiker Sezgin Tanrıkulu in einem ARD-Interview: "Sie haben den Weg gemeinsam beschritten. Erdogan hat das offen zugegeben. Ich zitiere ihn: 'Was fordert ihr, was wir euch nicht schon gewährt haben?'"
Erdogans AKP und die Bewegung Fethullah Gülens verfolgten ein gemeinsames Ziel: Die Umformung der westlich-orientierten Türkei in ein islamisch-konservatives Land. Das Streben nach Einfluss und Macht hat aus Partnern schließlich erbitterte Feinde gemacht. Bereits vor dem Putschversuch, so hat der damalige Regierungschef Binali Yildirim unmittelbar nach der Putschnacht freimütig eingeräumt, habe es Listen gegeben, auf denen vermerkt gewesen sei, gegen wen strafrechtlich vorgegangen werden sollte. Auch deshalb war der Putschversuch für Präsident Erdogan "ein Geschenk Gottes": Ein wichtiger Konkurrent auf dem Weg zur absoluten Macht konnte aus dem Weg geräumt werden.
Vieles bleibt im Dunkeln
Es gibt erschütternde Bilder aus jener Nacht: von Kugeln zerschmetterte Schädel, von Panzerketten zermalmte Körper. Es gibt Bild- und Tonaufnahmen in rauen Mengen. Trotz allem liegt diese Nacht in vielerlei Hinsicht immer noch im Dunkeln. Eine parlamentarische Untersuchungskommission sollte Licht in die dunkle Nacht bringen, sollte klären, wer wann was zu welchem Zeitpunkt wusste. Die Kommission wurde eine Woche nach dem Putschversuch gebildet. Nach knapp fünfmonatiger Arbeit löste Präsident Erdogan sie kurzerhand per Dekret auf. Wichtige Zeugen wie die Chefs von Geheimdienst und Generalstab, Hakan Fidan und Hulusi Akar, wurden ebensowenig befragt wie Regierungschef, Staatspräsident oder inhaftierte Putschisten. Die Aufarbeitung des Putsches oblag der zuvor im Sinne Erdogans "gesäuberten" Justiz.
Die Putschnacht - das "Geschenk Gottes" - hat den politischen Umbau der Türkei massiv beschleunigt. Gegen politische Gegner, gegen Kritiker und Oppositionelle wird seitdem rigoros vorgegangen. "Wir glauben, dass sich das parlamentarische System in diesem Land überlebt hat", erklärte Erdogan im Nachgang der Putschnacht und er kündigte an: "Wir bauen die 'Neue Türkei' auf, und wir glauben, dass wir eine neue Verfassung und ein exekutives Präsidialsystem brauchen." Dieser neuen Verfassung haben im April 2017 knapp 51 Prozent der Wählerinnen und Wähler zugestimmt - und Präsident Erdogan mit einer bis dahin beispiellosen Machtfülle ausgestattet.