Naher Osten Wie konnten die Milizen im Irak so stark werden?
Der Irak ist fest in der Hand von Milizen, die seit Monaten Stellungen des US-Militärs angreifen. Welche Rolle spielen diese bewaffneten Gruppen im Nahost-Konflikt - und was treibt sie an?
Es ist eine neue Phase in der Eskalationsspirale zwischen pro-iranischen Milizen im Irak und US-amerikanischen Streitkräften: Mit der Tötung dreier US-Soldaten durch irakische Milizionäre Ende Januar scheint diese Eskalation ein neues Hoch erreicht zu haben. Wie aber konnte es so weit kommen?
Im Irak existieren Dutzende Milizen, also bewaffnete Gruppen. Ihre Macht ist eng verknüpft mit der Geschichte des Landes. Heute gelten sie sogar als die eigentlichen Strippenzieher im Irak, als Staat im Staat, erklärt Inna Rudolf. Sie arbeitet am "International Centre for the Study of Radicalisation" am britischen King's College und forscht seit Jahren zu Milizen in der Region.
"Die pro-iranischen Milizen in Bagdad haben sich erfolgreich in die Verwaltung des irakischen Staats eingeschlichen. Darüber hinaus üben Freunde und Verbündete und Agenten dieser Milizen dann Einfluss in allen drei Gewalten aus - also in der Exekutive, Legislative und Judikative", sagt Rudolf.
Kampf gegen den IS
Ihre Popularität haben sich die meisten Milizen schon vor Jahrzehnten im bewaffneten Widerstand gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein erkämpft. Denn der hat die Schiiten - eine religiöse Volksgruppe im Land - jahrzehntelang unterdrückt, viele schiitische Iraker weggesperrt oder ermorden lassen. Daraufhin flohen viele in den benachbarten Iran, wo manche von ihnen zu Kämpfern ausgebildet und bewaffnet wurden.
Die schiitischen Kämpfer untermauerten ihren "Heldenstatus" mit ihrem Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS). In dieser Zeit wurden die sogenannten Hashd al-Shaabi ausgerufen, was so viel heißt wie "Volksmobilmachungseinheiten". Eine Art Dachverband von mehr als 60 überwiegend schiitischen Milizen, die in den vergangenen Jahren die Speerspitze im blutigen Kampf gegen den IS bildeten.
Offiziell sind die Hashd al-Shaabi inzwischen ein Teil der irakischen Streitkräfte und folgen dem direkten Kommando von Premierminister Mohammed Shia' al-Sudani. In der Realität allerdings agieren die meisten der etwa 60 Milizen außerhalb der offiziellen Befehlsstrukturen.
"Die Amerikaner tun nichts Gutes für uns Araber"
Wer verstehen will, was die Milizen antreibt, muss nach Sadr City fahren - einen Stadtteil im Norden Bagdads, den die Milizen fest in ihrer Hand haben. Die einfachen Betongebäude, die hier an den großen, staubigen Straßen stehen, sind oft nicht einmal verputzt. An vielen Straßenecken wird illegal Benzin aus Plastikflaschen verkauft.
Für westliche Journalisten ist es gefährlich, hier offen mit Anwohnern oder Mitgliedern der Milizen zu sprechen. Wir treffen Abu Zeinab deshalb in einem verqualmten Hinterraum eines kleinen Cafés. "Im Grunde genommen tun die Amerikaner nichts Gutes für uns Araber. Ich sage Ihnen, die Amerikaner sind der Teufel auf dieser Welt", sagt er.
Der 46-Jährige ist Teil der Harakat Hezbollah al-Nujaba Miliz. Genau wie der im Januar von den USA getötete pro-iranische Kommandeur. Zum Interview trägt Abu Zeinab keine Uniform, sondern ist eher unauffällig gekleidet - blaue Jeans und dunkle Jacke. "So Gott will, werden sich die Amerikaner durch unseren Druck und unsere Drohnenangriffe aus dem Irak zurückziehen", sagt er. Diese Angriffe seien ihr Recht. "Wir unterliegen keiner Kontrolle. Wir sind ein unabhängiges Land."
Viele Iraker kritisieren die USA. Auf diesem Bild verbrennen Anhänger des irakischen schiitischen Geistlichen al-Sadr während einer Demonstration im November zur Unterstützung der Palästinenser und gegen den Besuch des US-Außenministers Antony Blinken im Irak ein Plakat von US-Präsident Joe Biden.
Die Nähe zum Iran
Mehr als 160 Mal wurden US-Stellungen im Irak, in Syrien und Jordanien zwischen Anfang Oktober und Ende Januar mit Raketen oder Drohnen angegriffen - gesteuert von militanten Gruppen. Experten gehen davon aus, dass der Iran viele dieser irakischen Milizen politisch, finanziell und vor allem militärisch unterstützt.
Auch Abu Zeinab bestätigt die Nähe zum Iran: "Die meisten unserer Anführer haben 15 oder 20 Jahre im Iran gelebt. Sie haben gegessen, getrunken und gelebt wie die Iraner. Der Iran ist unser Unterstützer." Er sei "für viele die Quelle des Widerstands geworden", sagt er. "Es ist der Iran, der die Widerstandskräfte in der Region unterstützt."
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Milizen
Die schiitischen Milizen im Irak bilden zusammen mit den Huthi im Jemen, der Hisbollah im Libanon, der Hamas im Gazastreifen und verschiedenen Milizen in Syrien die sogenannte islamistische Widerstandsachse, die einst vom Iran ausgerufen wurde. Aber auch wenn ein Großteil der Milizen der Hashd al-Shaabi im Irak den Zurufen aus Teheran folgt - anzunehmen, dass sie ein einheitlicher Block sind, der vom Iran Anweisungen bekommt und diese dann blind ausführt, wäre falsch, sagt Islamexpertin Rudolf.
"Es gibt Meinungsverschiedenheiten selbst innerhalb der pro-iranischen Milizen, die sich als Teil der Widerstandsachse begreifen", so Rudolf. "Im Rahmen meiner eigenen Interviews, die ich vor Ort geführt habe, hatte ich auch selber den Eindruck, dass viele wirklich davon überzeugt sind, dass selbst wenn sie den formalen Anweisungen des irakischen Premierministers widersprechen und dagegen handeln, dass sie das im Interesse des irakischen Staates tun."
Ein instabiles Land
Dass die Milizen überhaupt so stark werden konnten, liegt nicht zuletzt an der Schwäche des irakischen Staates. Trotz milliardenschwerer Ölvorkommen gelingt es ihm nicht, einen großen Teil seiner Bürgerinnen und Bürger ausreichend zu versorgen. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge leben mehr als ein Viertel der Iraker in Armut, ein Drittel der Jugendlichen hat keine Arbeit. Doch statt in Infrastruktur, Bildung oder Sozialprogramme zu investieren, versickern die Einnahmen aus dem Ölgeschäft in einem aufgeblähten Beamtenapparat und verschwinden durch Korruption unter den politischen Eliten.
Auch wenn die Hashd al-Shaabi gelernt haben, dieses Vakuum auszunutzen: Viele Iraker und Irakerinnen sehen in den Milizen heute zunehmend eine Gefahr. Die Stimmen politischer Gegner, Menschen, die demokratische Reformen fordern, werden immer wieder mit Waffengewalt unterdrückt. Das sei eine gefährliche Entwicklung, meinen Fachleute wie Rudolf. Sie gefährde die sowieso schon fragile Stabilität im Land noch weiter.
In einer früheren Version des Textes wurde das "International Centre for the Study of Radicalisation" fälschlicherweise als "Center for International Radicalization" bezeichnet. Wir haben das korrigiert.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen