Sechs Monate Nahost-Krieg Tod, Hunger, Hoffnungslosigkeit
Fast sechs Monate dauert der Gaza-Krieg nun - Hunderttausenden fehlt es am Nötigsten. Ein Palästinenser mit deutschem Pass erzählt, wie seine Familie seit Monaten ums Überleben kämpft.
Saleh Eid weiß kaum, wo er anfangen soll. Der studierte Bauingenieur ist in dieser Woche in Rafah angekommen mit seiner Frau, dem zweijährigen Sohn und der Tochter, die Ende Februar auf die Welt gekommen ist. Hinter ihnen liegen sechs Monate, die sie in seiner Heimatstadt Dschabaliya, gleich nördlich von Gaza-Stadt, überlebt haben.
Die Handyverbindung ist instabil. Es ist ein Glück, dass sie nicht während des Gespräches abreißt. "Wir haben den Tod jeden Tag mit unseren Augen gesehen", sagt Saleh. Sie hätten sehr viel durchgemacht, durch die Granaten, durch die Luft-Boden-Raketen und vor allem durch den Hunger. "Ich und meine Frau haben manchmal zwei Tage lang nichts gegessen. Gar nichts."
Fünfmal haben sie seit Kriegsbeginn das Quartier wechseln müssen, sagt Saleh. Er hat viele Jahre in Deutschland gelebt und zog 2019 wieder zurück nach Gaza. Ihr Haus wurde stark beschädigt, als in unmittelbarer Nähe Bomben einschlugen. Sie kamen bei einer Cousine in Dschabaliya für zwei Wochen unter. Dann wurde ihre Wohnung, die neben einer Moschee lag, auch zerstört. Erneut ging es in eine andere Wohnung. Dann nach Gaza-Stadt, ganz in der Nähe des Al-Shifa-Krankenhauses, in ein Hochhaus, in dem etwa 1000 Menschen Schutz suchten. Kurz vor Geburt der Tochter wollte seine Frau wieder zurück nach Dschabaliya.
Horrende Preise für Lebensmittel
Obst und Gemüse, das früher im Norden des Gaza-Streifens in großen Mengen angebaut wurde, gibt es nicht mehr, seit fünf Monaten schon. Die Felder im Norden sind komplett planiert worden.
Die wenigen Lebensmittel, die auf der Straße angeboten werden, seien horrend teuer. Saleh nennt einige Beispiele: "Ein Kilogramm Fleisch kostet momentan 75 Euro. Ein Kilogramm Linsen kostet 40 Euro. Linsen - das essen bei uns nur arme Leute." Ein Kilogramm Reis koste bis zu 40 Euro. Früher habe ein 25-Kilo-Sack Reis umgerechnet zehn Euro gekostet. Das könne kein Mensch mehr bezahlen. Die Preise seien deswegen so hoch, "weil keine Hilfe kommt. Alles wird an der Grenze geklaut, entweder von den Leuten dort, oder die Hamas nimmt es sich." Es gebe keine Hilfe, kein Essen und keine humanitären Nahrungspakete.
Wut auf die Hamas wächst
In ihrer Not würden die Menschen aus Gras eine Suppe machen. "Hauptsache, es gibt irgendetwas zu essen." Im Norden gebe es noch etwa eine halbe Million Menschen. "Und diese Leute haben alle Hunger."
Der 7. Oktober sei von Grund auf falsch gewesen. Er und seine Familie - sie leben schon lange in Dschabaliya - seien nie Teil der Hamas gewesen. Viele Palästinenser in Gaza hätten die Hamas schon vor dem 7. Oktober gehasst. 75 Prozent, schätzt er. Und heute? Viel mehr noch, "weil die Hamas alles weggenommen hat. Und es gab schon vor dem 7. Oktober viel Armut in Gaza."
Und jetzt fragten sich die Menschen: "Wer bezahlt die Strafe für den 7. Oktober? Nur die Zivilbevölkerung." 80 Prozent, die gestorben sind, seien Zivilisten gewesen. "Die hatten gar nichts zu tun mit der ganzen Geschichte", sagt Saleh. "Und viele Menschen davon hassen auch Hamas."
Von den Meldungen der israelischen Armee, wonach die Hamas weitgehend militärisch besiegt sei und es nur noch in Rafah einige Bataillone der Islamisten gebe, hält Saleh nichts. Denn seine Beobachtung lautet so: Von Hamas seien keine 20 Prozent getötet worden. "Die Hamas ist noch stark. Deren Militär ist überall. Die kontrollieren alles."
Hoffen auf Ausreise
Letzten Dienstag erhielt Saleh, der einen deutschen Pass hat und dessen vier erwachsene Kinder aus erster Ehe in Deutschland leben, einen Anruf, auf den er schon lange gewartet hat. Einen Anruf vom deutschen Vertretungsbüro in Ramallah, das für die konsularische Betreuung von Deutschen im besetzten Westjordanland und - aus der Ferne - in Gaza zuständig ist. Seine Familie und er stünden auf der Liste für die Ausreise über Rafah nach Ägypten und weiter nach Deutschland. Eiligst machten sie sich auf den Weg nach Süden. Ein Cousin fuhr sie für 75 Euro bis in die Nähe des Checkpoints der israelischen Armee, der den Norden vom Süden des Gazastreifens seit Ende Oktober durchtrennt.
Zwei Kilometer vorher mussten sie aussteigen, der Cousin hatte zu viel Angst. Seine Frau habe das Baby und die kleine Tasche getragen, er die drei großen Taschen und den Zweijährigen an der Hand. Dann wurden sie Zeugen, wie die israelischen Soldaten mit Gesichtserkennungs-KI alle Menschen erfassten und mitunter kurz darauf einige bei ihrem Namen herausriefen. Das sei ein großer Checkpoint, 500 bis 600 Meter lang. Die Soldaten redeten mit Mikrofon und sagten: "Lauft durch die Straße und guckt in die Kamera."
"Zu Teufeln gemacht"
Sie kamen durch, nach weiteren zwei Kilometern Fußmarsch holte sie ein Verwandter ab, bis Deir al Balah, und schließlich bis Rafah. Seine Frau und die Kinder konnten am vergangenen Mittwoch die Grenze passieren. Saleh hofft, dass er am Montag drankommt.
Gaza sei für 100 Jahre zerstört, alles - Häuser, Heimat, Schulen, Unis, Geschäfte, Krankenhäuser. Warum der Westen so lange geschwiegen und nichts gesagt habe? Bevor wir unser Gespräch beenden, gibt er zurück: Von Anfang des Krieges hätten "ganz Europa und Amerika uns zu Teufeln gemacht, zu Teufeln von Gaza. Wir sind Teufel."