100 Tage nach Hamas-Angriff "Retraumatisierung einer ganzen Gesellschaft"
100 Tage nach dem Angriff der Hamas-Terroristen erlebt der Historiker Meron Mendel Israel als anhaltend schockiert. Er schildert, wie der Angriff das Selbstverständnis Israels erschüttert hat - und warum dort wenig Raum für Empathie bleibt.
tagesschau.de: Sie waren vor Kurzem wieder in Israel. Wie haben die Ereignisse des 7. Oktober und der nachfolgende Krieg Israel und die Gesellschaft nach Ihrem Eindruck verändert?
Meron Mendel: Am 7. Oktober hat die Retraumatisierung einer ganzen Gesellschaft stattgefunden. Ich habe bei meinem jüngsten Besuch die Familie und Freunde getroffen, fast ausschließlich Menschen, die sich seit vielen Jahren für Frieden engagieren, die auch seit Januar vergangenen Jahres aktiv am Protest gegen Benjamin Netanyahu teilgenommen haben. Und alle sind immer noch so stark vom Ausmaß der Grausamkeit der Gräueltaten vom 7. Oktober schockiert. Hinzu kommt auch die anhaltende und zunehmende Sorge um die Geiseln.
Was passiert ist, hat gerade die Menschen in Israel getroffen, die sich für Frieden und Versöhnung eingesetzt haben, weil die Hamas nicht die Armee angegriffen hat, nicht die Siedler, sondern die Kibbuzim und Dörfer an der Grenze zum Gazastreifen, die dafür bekannt sind, dass sie Teil des Friedensbewegung sind. Einige von den Ikonen der Friedensbewegung wie Vivian Silver aus dem Kibbuz Be'eri wurden brutal ermordet. Dadurch ist vielen Israelis klar geworden, dass die Hamas alle Juden in Israel ermorden will.
Meron Mendel ist ein israelisch-deutscher Publizist und Historiker. Er ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sein Buch "Über Israel reden. Eine deutsche Debatte" wurde für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert.
"Ein weiteres Glied in einer langen Kette von Pogromen"
tagesschau.de: Können Sie diese Retraumatisierung an einem Beispiel schildern?
Mendel: Ich traf mich mit den Eltern meines besten Freundes, mit denen ich meine ganze Jugendzeit verbracht habe und für die ich wie ein zweiter Sohn bin. Die Schwester meines Freundes wurde mit ihrem Mann am 7. Oktober ermordet. Die Schwester hat sich, als die Terroristen ihr Haus angriffen, schützend über ihren Sohn geworfen, der dadurch nur verletzt wurde und überlebte. Ihr Vater sagte mir: "Meine Mutter musste erleben, wie ihre Eltern während der Pogrome im damaligen Polen vor ihren Augen ermordet wurden. Und jetzt musste mein Enkelsohn sehen, wie seine Eltern vor seinen Augen ermordet wurden."
Das Familientrauma hat sich also wiederholt, vor ihren Augen. Für viele Menschen sind die Angriffe vom 7. Oktober deshalb ein weiteres Glied in der langen Kette von Verfolgung und Pogromen. Das sind Erzählungen und Geschichten, die jeder in Israel aus der eigenen Familie kennt.
tagesschau.de: Israel ist als Staat das Versprechen an alle Juden auf der Welt, dass es einen sicheren Hafen gibt und dass sie nicht mehr wehrlos gegen Verfolgung und Gewalt sind. Ist das durch den 7. Oktober erschüttert worden?
Mendel: Das ist erheblich erschüttert worden. Niemand hat sich vorstellen können, dass Terroristen - wie am 7. Oktober - bis zu 24 Stunden durch die Kibbuzim, durch Dörfer, durch Musikfestivals ziehen und Menschen systematisch foltern, ermorden, vergewaltigen. Das bleibt nachhaltig als ein Trauma.
"Es bleibt wenig Platz für Empathie"
tagesschau.de: Israel hat hart reagiert. Der Krieg im Gazastreifen hat zu geschätzt mehr als 20.000 Toten geführt. International gibt es zunehmende Kritik an dem Leiden der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Wie nimmt man das in der israelischen Bevölkerung wahr?
Mendel: In den Medien, den meisten Tageszeitungen und in der Fernsehberichterstattung finden das Leiden der Zivilisten, das Ausmaß der Zerstörung, die humanitäre Katastrophe relativ wenig Platz. Ich habe den Eindruck, dass es den meisten Menschen noch sehr schwerfällt, Empathie für das Leiden der Zivilisten auf der anderen Seite zu entwickeln, angesichts großer Leiden in der eigenen Bevölkerung. Denn jeder Israeli hat jemanden aus der Familie oder aus Bekanntenkreis verloren.
Alle bangen um das Schicksal der Geiseln. Da bleibt wenig Platz für Empathie. Ich kann das in gewisser Weise auch nachvollziehen. Aber ich finde es auch falsch, weil man sich dann wieder in einer sehr verengten Sicht auf den Konflikt verschanzt. Das verspricht aber keine Lösung des Problems, sondern eher die Fortsetzung der Gewalt.
"Man fühlt sich ungerecht behandelt"
tagesschau.de: Wie sehr wird denn wahrgenommen, dass diese Diskussion außerhalb Israel intensiv geführt wird? Fühlt man sich an dieser Stelle unverstanden?
Mendel: Man fühlt sich nicht nur unverstanden, sondern ungerecht behandelt. Die Israelis, die viele Kontakte im Ausland haben, deren Wertekanon universalistisch ist und die dem Friedenslager angehören, haben sehr genau beobachtet, wie ähnlich gesinnte Menschen auf der Welt auf den 7. Oktober reagiert haben - insbesondere das linke Spektrum in Europa und den USA, die Universitäten, die Kunst- und Kulturwelt. Da gibt es eine bittere Enttäuschung, denn sie haben Kälte verspürt.
Nach dem Massaker auf dem Musikfestival gab es ein dröhnendes Schweigen in diesen Kreisen. Das hat viele Menschen gerade im Friedenslager sehr verletzt. Sie haben das Gefühl, keine Verbündeten mehr im Ausland zu haben, dass sie allein gelassen wurden in einem Moment, wo sie die Solidarität der Welt brauchten.
Dazu gehört auch, dass trotz des großen Ausmaßes von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt am 7. Oktober Frauenrechtsorganisationen stumm geblieben sind. Und das hat viele Frauen, mit denen ich gesprochen habe, zutiefst verletzt. Es führt zu dem Eindruck: Wenn jüdische Mädchen und Frauen in Israel in dieser Form vergewaltigt werden, zählt es nicht für die internationalen Frauenorganisationen.
Was die Kritik an der Kriegsführung anbelangt, habe ich unterschiedliche Haltungen in Israel angetroffen. Einige fühlten sich ungerecht behandelt, weil die Welt nicht sieht, dass Israel um seine Existenz kämpft und das nicht geht, ohne Zivilisten zu töten. Andere finden es gut, dass die Welt genau hinschaut und das kritisiert, weil sie selbst ihrer eigenen Regierung und Armeeführung misstrauen, ob der Krieg ohne internationale Kontrolle nach den Standards des Kriegsvölkerrechts geführt wird.
Kriegsdauer "zunehmend kritisiert"
tagesschau.de: Netanyahu stimmt die Bevölkerung auf einen langen Krieg ein. Wird auch das mehrheitlich mitgetragen?
Mendel: Das wird zunehmend kritisiert und ist vor allem unter der Frage umstritten: Was führt am ehesten dazu, die Geiseln zu befreien? Netanyahus Regierung argumentiert, nur militärischer Druck zwinge die Hamas dazu, über die Geiseln zu verhandeln und sie am Ende im Rahmen eines Austauschs freizulassen.
Netanyahus Kritiker weisen darauf hin, dass die bisherige Kriegsführung, also vom Geiselaustausch im November bis heute, nicht zu einer weiteren Befreiung von Geiseln geführt hat. Sie fordern einen Waffenstillstand, um damit die Bedingungen zu schaffen, dass die Geiseln freikommen.
"Netanyahu spielt auf Zeit"
tagesschau.de: Terrorangriff und Krieg haben eine Gesellschaft getroffen, die sich ohnehin schon in einer tiefgreifenden Debatte über ihr Selbstverständnis befand, ausgelöst durch die Justizreform der Regierung Netanyahu. Haben Sie diesen Riss bei Ihrem Besuch immer noch gespürt oder ist er zugedeckt?
Mendel: Es war nicht nur ein Riss, sondern ein Bruch, und der ist immer noch da, aber nicht mehr auf der Oberfläche. Er ist stückweise in den Hintergrund geraten, wird aber langsam wieder sichtbarer und wird, wie ich vermute, in den nächsten Monaten immer stärker - solange der Krieg anhält, solange es das das Ziel von Netanyahu ist, den Krieg so weit zu verlängern, dass er als Ministerpräsident an seinem Amt festhalten kann.
Viele Israelis, die vor dem 7. Oktober noch im Lager von Netanyahu und seinen Verbündeten waren, sind nach dem 7. Oktober in das andere Lager gewechselt. Die Umfragewerte der Regierung sind derzeit für Netanyahu nicht sehr erfreulich und es ist klar, dass er deshalb auf Zeit spielt.
Seine Gegner sind aber in einem Dilemma. Während eines Krieges zu fordern, ein Ministerpräsident müsse abtreten und dazu vielleicht Großdemonstrationen zu veranstalten wie vor dem 7. Oktober, ist eine heikle Angelegenheit. Genau darauf zielt Netanyahu mit seiner Taktik.
"Es geht auch um Narrative"
tagesschau.de: Es ist ja direkt nach dem Terrorangriff starke Kritik an den Sicherheitsdiensten geübt worden. Ist auch diese Debatte vertagt?
Mendel: Diese Debatte gibt es weiterhin, und hier geht es auch um Narrative. Wer trägt die Schuld - das Militär oder die Politik? Auch das Lager von Netanyahu spricht von Versagen, sieht die Gesamtverantwortung aber bei der Armee und den Aufklärungsdiensten. Eine eigene Verantwortung räumt er nicht ein.
Die Armee hat inzwischen einen Untersuchungsausschuss zu den militärischen Versäumnissen einberufen - das wiederum wird aus der Regierung scharf kritisiert. Also ist auch die Frage, wer was untersucht, hochbrisant. Zudem gibt es bei Netanyahus Unterstützern Verschwörungstheorien, wonach die Armee die Ereignisse vom 7. Oktober bewusst zugelassen habe, damit Netanyahu gestürzt wird.
"Ein Krieg ohne politisches Ziel ist nicht legitim"
tagesschau.de: Es bleibt die Frage nach dem Danach. Welche Antworten hören Sie?
Mendel: Eines ist klar: Weder die Hamas noch Netanyahu haben Interesse an einer langfristigen politischen Lösung. Das "Geschäftsmodell" der Hamas besteht darin, dass nach dem Konflikt alle Investitionen in die erneute Aufrüstung und in den Bau von Tunneln gehen. Insofern ist Netanyahu für sie der perfekte Partner. Denn seine Strategie ist, dass die Spaltung der Palästinenser zwischen der Fatah-Bewegung im Westjordanland und der Hamas im Gazastreifen andauert.
Weder auf der palästinensischen noch auf der israelischen Seite wird über langfristige politische Lösungen gesprochen. Es gab keine einzige Sitzung des israelischen Kabinetts, auf der, abgesehen von Floskeln, ein Thema war, was das politische Ziel des Krieges ist. Was soll danach im Gazastreifen geschehen? Deshalb ist es Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, den Israelis klar zu sagen: Ein Krieg ohne politisches Ziel, ohne eine Vision ist kein legitimer Krieg.
Wir hören von der rechtsextremistischen Seite des israelischen Kabinetts die Forderung nach einer Vertreibung der Palästinenser aus Gaza, dass von 1,3 Millionen Palästinensern nur noch 100.000 bis 200.000 bleiben sollen. Vor dieser Vision kann es einem nur grauen.
Aus meiner Sicht gibt es nur eine tragbare Lösung. Und das ist eine gemeinsame Regierung von Westjordanland und Gaza unter der Führung der palästinensischen Autonomiebehörde, und das kann nur unter zwei Bedingungen passieren. Die Autonomiebehörde verpflichtet sich, die Verantwortung über Gaza zu übernehmen und bekommt im Gegenzug die Unterstützung von Israel und der internationalen Gemeinschaft. Und, das ist ganz wichtig, auch die Anerkennung als palästinensischen Staat.
Die Palästinenser artikulieren schon lange den Wunsch nach Gründung eines palästinensischen Staats. Und es an der Zeit, dass sie diesen Wunsch mindestens auf die symbolische Ebene durch Anerkennung durch die Vereinten Nationen und die Weltgemeinschaft durchsetzen können.
"Anerkennung eines palästinensischen Staates wäre der richtige Schritt"
tagesschau.de: Sieht es nicht aber danach aus, dass die Aussichten dafür noch schlechter geworden sind und es dafür in Israel keine Mehrheit gibt?
Mendel: Zunächst einmal kann das unabhängig von der Mehrheit in Israel geschehen, der Ball liegt bei der internationalen Gemeinschaft. Wenn sich die Unterstützer Israels und die Unterstützer der Palästinenser darauf einigen und die palästinensischen Gebiete bei der UN den Status eines Staats bekommen, geht es nicht um die Mehrheiten in der israelischen Bevölkerung. Wenn die USA, die Europäer, aber auch gemäßigte arabische Staaten zusammenarbeiten, kann man schrittweise diesen Konflikt in konstruktive Bahnen lenken.
Derzeit arbeitet aber jeder für sich. Dadurch werden gerade die Chancen, die aufgrund dieser schlimmen Situation entstanden sind, verpasst. Israel ist aktuell sehr abhängig vor allem von den USA. Das kann man auch dafür nutzen, mehr Einfluss zu auf die Bereitschaft der Regierung Netanyahu zu nehmen, der Gründung eines palästinensischen Staates zuzustimmen.
Natürlich bleiben viele Fragen offen, in allererster Stelle zu den Grenzen dieses Staates, zur Zukunft der Siedlungen, nach dem Status von Jerusalem. Dennoch wäre die Anerkennung eines palästinensischen Staats aus meiner Sicht der richtige Schritt.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de