Geisel-Familien sind entsetzt Scharfe Kritik an Netanyahu-Rede vor US-Kongress
Israels Premier Netanyahu schlägt nach seiner Rede vor dem US-Kongress eine Welle der Entrüstung entgegen. Angehörige von Geiseln werfen ihm eine "PR-Tour" durch die USA und "politisches Theater" vor.
Kurz vor dem Treffen mit US-Präsident Joe Biden und dessen Vize Kamala Harris ist die Enttäuschung über die Rede von Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu vor dem US-Kongress groß. Familien von Geiseln der Hamas bezeichneten den Auftritt als "politisches Theater", wie israelische Medien meldeten. Kritik kam auch von der einflussreichen Demokratin Nancy Pelosi - Beifall hingegen eher von republikanischen Abgeordneten.
Netanyahu habe "es versäumt, neue Lösungen oder einen neuen Weg zu präsentieren", heißt es in einer Erklärung amerikanischer Angehöriger der Geiseln. "Vor allem hat er es versäumt, sich zu dem Geiselabkommen zu bekennen, das jetzt auf dem Tisch liegt, obwohl Israels ranghohe Verteidigungs- und Geheimdienstbeamte ihn dazu aufgefordert haben", wurden sie zitiert. Kurz vor der Rede war bekannt geworden, dass eine geplante Abreise israelischer Unterhändler zu den indirekten Verhandlungen nach Katar verschoben worden ist.
Israels Premier Netanyahu verteidigt seinen Militär-Kurs im Krieg gegen die Terrororganisation Hamas
Demokratin Pelosi kritisiert Netanyahu für Rede
Die USA als wichtigster Verbündeter drängen Israel, die humanitäre Hilfe in Gaza zu verstärken und den Schutz der Zivilbevölkerung zu verbessern. Die frühere demokratische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, urteilte auf der Plattform X hart über Netanyahus Auftritt. Dies sei der "bei weitem schlechteste Auftritt eines ausländischen Würdenträgers" gewesen, der das Privileg gehabt habe, vor dem US-Kongress zu reden.
Netanyahu hatte bei seiner Rede entgegen den Hoffnungen von Angehörigen der 115 noch im Gazastreifen verbliebenen Geiseln keine Vereinbarung über eine Waffenruhe im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln angekündigt. Die islamistische Hamas bezichtigte ihn der Lügen. "Netanyahus Gerede über verstärkte Bemühungen um die Rückkehr der Geiseln ist eine glatte Lüge und führt die israelische, amerikanische und internationale Öffentlichkeit in die Irre", heißt es in einer Stellungnahme.
Beziehung zwischen Biden und Netanyahu vor Treffen angespannt
Die US-Regierung zeigte sich auf offiziellem Wege dennoch erneut optimistisch und sieht die Verhandlungen in der "Schlussphase", so ein hochrangiger US-Regierungsvertreter. Es gebe Fortschritte und man gehe davon aus, dass die Differenzen überwindbar seien. Klar sei jedoch, dass sich sowohl Israel als auch die Hamas in einigen Punkten bewegen müssten. Netanyahu regiert in einer Koalition mit ultra-religiösen und rechtsextremen Parteien, die Zugeständnisse an die Hamas ablehnen und mit der Sprengung der Regierung drohen.
"Ich werde weiter daran arbeiten, den Krieg in Gaza zu beenden, alle Geiseln nach Hause zu bringen und dem Nahen Osten Frieden und Sicherheit zu bringen", sagte US-Präsident Biden. Sein Verhältnis zu Netanyahu gilt wegen dessen Kriegsführung als angespannt. Biden will Netanyahu heute im Weißen Haus empfangen. Der israelische Regierungschef hatte bei seiner inzwischen vierten Rede vor dem US-Kongress gefordert, "Amerika und Israel müssen zusammenstehen".
Während die Angehörigen von weiteren toten Geiseln erführen, setze Netanyahu "seine PR-Tour durch die USA" fort und trete "weiter auf die Bremse", zitierte die Zeitung Times of Israel die Mutter einer der von der Hamas weiter festgehaltenen Geiseln. Israelische Soldaten hatten zuvor im Gazastreifen die Leichen von fünf Geiseln geborgen. Darunter befindet sich die 56-jährige Einwohnerin eines Kibbuz am Rande des abgeriegelten Küstenstreifens, wie die Armee mitteilte. Bei den anderen handele es sich um getötete Soldaten.
Relativierung der Opferzahl
Netanyahu wies Vorwürfe zurück, Israel ziele absichtlich auf Zivilisten. "Die israelische Armee hat Millionen von Flugblättern abgeworfen, Millionen von SMS, Hunderttausende Telefongespräche geführt, um Schaden an palästinensischen Zivilisten zu verhindern", sagte der Premier. Gleichzeitig habe die militant-islamistische Hamas "alles in ihrer Macht Stehende getan, um palästinensische Zivilisten in Gefahr zu bringen".
Er sagte zudem, im Gaza-Krieg habe es verhältnismäßig wenige zivile Opfer gegeben, im Vergleich zu Kriegen in Wohngebieten in anderen Ländern. Besonders niedrig seien zivile Verluste in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifen gewesen. Seine Aussage widerspricht den Zahlen des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums. Diese unterscheiden allerdings nicht zwischen getöteten Zivilisten und Kombattanten.
Geisel-Angehörige vor dem Kapitol festgenommen
Im Vorfeld und während der Rede demonstrierten zahlreiche Menschen rund um das Parlamentsgebäude. Bei einer propalästinensischen Kundgebung forderten Rednerinnen und Redner die US-Regierung von Joe Biden unter anderem dazu auf, die militärische Hilfe für Israel komplett einzustellen. Sie warfen Israel einen Genozid im Gazastreifen vor und beschuldigten Biden, seine Stellvertreterin Kamala Harris und die Spitzen im US-Parlament, sich daran zu beteiligen. Es wurden palästinensische wie auch israelische Flaggen gezeigt.
Die Kapitolpolizei teilte mit, ganz in der Nähe des Parlamentsgebäudes sei "ein Teil der Menge gewalttätig" geworden. Mehrere Zuhörer hatten zudem die Rede Netanyahus von der Tribüne des Plenarsaals aus mit Zwischenrufen gestört. Sechs Angehörige israelischer Geiseln, die Netanyahus Rede vor dem Kongress beiwohnten, wurden von der Kapitol-Polizei israelischen Medienberichten zufolge festgenommen und später wieder freigelassen.
Mit Informationen von Isabell Karras, ARD-Studio Washington