50 Jahre nach Putsch in Chile Pinochets langer Schatten
Vor 50 Jahren putschte das chilenische Militär gegen die demokratisch gewählte Regierung. Es war der Beginn einer brutalen Diktatur, die bis heute nachwirkt. Pinochets Erbe spaltet das Land immer noch.
Eine Truppe "Rote Teufel" bahnt sich wild tanzend den Weg durch das Zentrum von Santiago de Chile bis zum Friedhof - dahinter ein langer Zug mit Menschen. Plakate mit Schwarz-Weiß-Fotos werden hochgehalten: Modesto Espinoza, 32 Jahre steht darauf, Claudio Escanillo, 15 Jahren oder auch Isidro Salinas Martin, 18 Jahre.
Hunderte sind am Sonntagmorgen zur Romaria gekommen, dem Gedenkmarsch für die Opfer der chilenischen Militärdiktatur - die gefoltert wurden, verschleppt, ermordet.
Barbara hat selbst jahrelang als politisch Verfolgte im Exil in Berlin gelebt: "Mein Vater war einer von den meistgesuchten Männern hier in Chile." Sie habe Verwandte, die verschwunden seien und Verwandte, die in der Karawana de la Muerte umgebracht worden seien. "Die haben 50 Jahre lang unser Gedächtnis gelöscht. Es wurde einfach vergessen."
Zahlreichen Menschen nehmen am Gedenkmarsch für die Opfer der Militärdiktatur teil - auch eine Gruppe "Roter Teufel".
"Dann fielen die Schüsse"
50 Jahre vorher, am 11.September 1973: Das Militär unter General Augusto Pinochet putscht gegen die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende. Die Bilder vom brennenden Moneda-Palast gingen um die Welt. Luis Henriquez Seguel gehörte damals zur Leibgarde des sozialistischen Präsidenten.
"Zuerst die Panzer, dann die Flugzeuge, alles war voller Tränengas, wir konnten kaum atmen", erzählt er. Es habe Explosionen und Feuer gegeben, der Strom sei ausgefallen, dann seien die Wasserrohre gebrochen. "Es war ausweglos", sagt Henriquez Seguel. "Der Präsident kam und gab jedem einzelnen die Hand. Gracias Compañero. Wir sollen das Gebäude verlassen, er ging in den Salon. Wir haben ihn rufen gehört: Allende ergibt sich nicht. Verdammt. Dann fielen die Schüsse." Allende erschoss sich.
Mit ihm stirbt der Traum eines sozialistischen Chile: Der Widerstand gegen seine Politik - Landreform, kostenlose Bildung, Verstaatlichung der reichen Kupfervorkommen - war enorm, auch in Washington. Die Welt war im Kalten Krieg. Ein zweites Kuba galt es zu vermeiden. Die CIA, aber auch der Bundesnachrichtendienst, so aktuelle Recherchen des MDR, unterstützten die Gegner der sozialistischen Regierung Allende. Chile stürzte in eine Wirtschaftskrise. Streiks legten das Land lahm. Immer wieder kam es zu rechten Terroranschlägen.
Hunderte Menschen noch vermisst
Gleich nach dem Putsch beginnt unter Pinochet eine brutale Diktatur. Mehr als 1.100 verschleppte Menschen werden immer noch vermisst - auch Erika Hennings Ehemann. Sie selbst leitet heute eine Gedenkstätte an jenem Ort, wo sie selbst gefoltert wurden - dem Londres 38, mitten im Zentrum von Santiago.
"Sie haben Leute inhaftiert, die militant waren. Sie wollten in der Lage sein, uns beiseite zu schaffen, um ein Land nach ihren Vorstellungen zu schaffen", sagt Hennings. Und das habe man heute noch: Ein Land mit miserablen Renten, einem miserablen Gesundheitssystem und schlechter Bildung.
Wirtschaftlich gilt das Land als stabil in Lateinamerika, aber der Wohlstand ist extrem ungerecht verteilt - dagegen protestierten 2019 Hunderttausende monatelang auf den Straßen und wählten 2021 mit Gabriel Boric einen ehemaligen Studentenführer ins Präsidentenamt. Doch er hat wenig Rückhalt, eine neue progressive Verfassung wurde deutlich abgelehnt. Die Rechte weigerte sich, zum 50. Jahrestag des Putsches ein gemeinsames Dokument zur Verteidigung der Demokratie zu unterzeichnen. Mehr noch: Vor ein paar Tagen rechtfertigten rechte Politiker im Parlament den Putsch von 1973.
"Sie wollen uns Angst machen, wie damals"
Kurz nach Beginn des Gedenkmarsches am Sonntag fährt die Polizei mit schweren Einsatzwagen und Wasserwerfern vor, schneidet den friedlich Demonstrierenden, darunter viele alte Leute und Kinder, immer wieder den Weg ab. "Und die haben sogar Pfefferspray mit. Wenn ihr hier die Straße runterlaufen, ist alles voll. Militär, Polizei. Tränengas. Wasserwerfer. Was soll das?", sagt die frühere Exilantin Barbara. "Wir wollen nur unsere Leute erinnern, die vor 50 Jahre hier umgebracht wurden. Und eine Blume am Friedhof lassen."
Carlos Alberto Catalan, ein weiterer Demonstrant, sagt: "Das ist frustrierend: Das soll uns abschrecken. Sie wollen uns Angst machen, wie damals 1973, als sie Allendes Politik boykottiert haben, nun boykottieren sie die Boric Regierung". Das sei eine Missachtung gegenüber dem Volk.
Das Erbe der Pinochet-Diktatur spaltet Chile bis heute - 50 Jahre nach dem Putsch gegen Allende.