Vor 50 Jahren Warum Kanzler Brandt über den DDR-Spion stürzte
Aufregung um enttarnte Spione? Alles schon mal da gewesen. 1974 nah beim Kanzler, medial noch gewürzt mit Bettgeschichten: Der Fall Guillaume zeigt, wie Spionageabwehr nicht laufen sollte.
Am 24. April 1974 werden Günter Guillaume und seine Ehefrau Christel verhaftet. Das Agenten-Paar ist enttarnt. Die beiden haben jahrelang für die DDR spioniert. Besonders heikel: Günter Guillaume ist zu dem Zeitpunkt Mitarbeiter im Bundeskanzleramt von Willy Brandt.
Im Bonner Bundestag sorgt die Meldung für Entsetzen. In den Medien gehen sofort Spekulationen los: Wie eng war das Verhältnis von Bundeskanzler Willy Brandt zu Günter Guillaume? Welche Staatsgeheimnisse hat der DDR-Spion an die Stasi weitergegeben?
Als DDR-Flüchtlinge nach Frankfurt am Main
Zusammen mit seiner Frau Christel und seiner Schwiegermutter kommt Guillaume 1956 als vermeintlicher DDR-Flüchtling in das Notaufnahmelager Gießen. Von dort siedeln sie nach Frankfurt am Main über, wo Günter Guillaumes Schwiegermutter einen Zigarrenladen eröffnet - künftig ein wichtiger Ort für den geheimdienstlichen Nachrichtenaustausch.
1957 tritt Guillaume auf Stasi-Befehl in die hessische SPD ein. Zunächst aber macht Christel in der Frankfurter SPD Karriere. 1964 wird sie Sekretärin in der hessischen Staatskanzlei, eine vergleichsweise gute Position.
Zu Christel Guillaumes Unmut gilt aber ihr Mann für die Stasi weiterhin als ihr Chef, dessen Agenten-Aufstieg sie fördern soll. Günter Guillaume wird 1964 Geschäftsführer der Frankfurter SPD. Er lernt Verkehrsminister Georg Leber kennen, der von ihm begeistert ist und ihn zum Organisator seines Wahlkampfteams macht. Als im Herbst 1969 die sozialliberale Koalition im Bund zustande kommt, empfiehlt Leber seinen Mitarbeiter Guillaume dem Bundeskanzler.
Der Spion kommt ins Kanzleramt
Für die Historikerin Daniela Münkel, Forschungschefin am Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin, hätte spätestens bei der Einstellung Günter Guillaumes im Kanzleramt seine Schein-Identität auffliegen müssen.
"Es wird geprüft, aber man hat nichts Handfestes. Da muss schon sehr geschlampt worden sein zu dem Zeitpunkt", sagt Münkel im SWR-Podcast "Das Wissen". BND und Verfassungsschutz schauen nicht genau genug hin. Nur der Personalrat moniert, dass Guillaume zu hoch eingruppiert und nicht qualifiziert sei für den Job.
Im Kanzleramt arbeitet Günter Guillaume zunächst als Verbindungsmann zu den Gewerkschaften, dann zur SPD. Entgegen der heute noch weit verbreiteten Vorstellung vom engen Vertrauten, vom Einflüsterer des Kanzlers, arbeitet der Spion aber nie wirklich eng mit Willy Brandt zusammen, sagt Daniela Münkel: "Das ist eine Mär, die sich bis heute hält. Brandt war gar nicht besonders begeistert von Günter Guillaume."
Guillaume als "Seismograf im Kanzleramt"
Der nachrichtendienstliche Wert von Günter Guillaume bleibt überschaubar. Während seiner Zeit im Kanzleramt übermittelt er 30 Lieferungen, wie geheimdienstliche Nachrichten genannt werden, an die Stasi. Deren Gehalt wird dort als eher mittelmäßig eingestuft. Trotzdem ist Günter Guillaume als "Seismograf im Kanzleramt", wie Daniela Münkel sagt, wichtig: "Der hörte mal was, was er vielleicht nicht hören sollte. Der kriegte die Stimmung mit, auch was in der SPD los war."
Im Frühjahr 1973 erhärtet sich der Verdacht gegen Günter Guillaume. Der Verfassungsschutz informiert Willy Brandt darüber. Dieser ist zu dem Zeitpunkt ohnehin genervt von Guillaume und will ihn ins Verkehrsministerium versetzen. Er lässt sich aber überreden, Guillaume zu behalten und somit als Lockvogel zu dienen. Warum er sich darauf einlässt, ist bis heute unklar.
Die Guillaume-Affäre wird zum Medienskandal
Auf die Spur Guillaumes kommen schließlich zwei Verfassungsschutzmitarbeiter. Sie stoßen auf verschlüsselte, von der Stasi in den Westen gefunkte Glückwünsche. Ein Geburtstagsgruß 1956 ging an einen "Georg" - just am Geburtstag von Guillaume - ein andere enthielt einen "Glückwunsch zum zweiten Mann" - offenbar die Gratulation zur Geburt von Sohn Pierre.
Als Guillaume am 24. April 1974 verhaftet wird, gibt er sich als Stasi-Offizier zu erkennen. Willy Brandt, einst selbst Journalist, ist eigentlich ein Medienprofi. Aber die Guillaume-Affäre unterschätzt er völlig. Die Medien spekulieren bald weniger über die Spionage selbst als über Affären des Spions und Frauengeschichten des Kanzlers.
Brandt ist gesundheitlich angeschlagen, politisch stocken seine Reformvorhaben. Weil ihm auch die eigene Parteispitze, in Person des Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, die Rückendeckung verweigert, reift in Brandt der Entschluss zum Rücktritt. Am Abend des 6. Mai 1974 reicht er bei Bundespräsident Gustav Heinemann sein Rücktritts-Gesuch ein. Am 7. Mai wird der Rücktritt bekannt gegeben.
"Genscher, nicht Brandt, hätte zurücktreten müssen"
Die Mehrheit der Bevölkerung kann Willy Brandts Rücktritt nicht nachvollziehen, er ist einer der beliebtesten Kanzler der Bundesrepublik. Und auch politisch halten ihn viele Mitstreiter für überzogen. "Wenn, dann hätte Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher zurücktreten müssen", sagt auch Daniela Münkel vom Stasi-Unterlagen-Archiv. Der FDP-Politiker war eigentlich politisch verantwortlich für das Versagen von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz.
Stellungnahme des DDR-Außenministeriums
Das DDR-Außenministerium lässt zum Rücktritt Brandts eine Stellungnahme im Radio verlesen, wonach man die Guillaume-Affäre als "innere Angelegenheit der Bundesrepublik" betrachte. Intern ist in der Stasi und um Erich Honecker die Sorge jedoch groß, der enttarnte Spion im Kanzleramt könnte die Entspannungspolitik unter Willy Brandt gefährden.
1972 hatte die DDR noch mit - wie sich später herausstellt - mindestens zwei gekauften Stimmen verhindert, dass Brandt ein Misstrauensvotum im Bundestag verliert.
Guillaume kehrt als Held in die DDR zurück
Günter und Christel Guillaume werden im Dezember 1974 zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Landesverrats verurteilt. Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs dürfen sie aber schon 1981 in die DDR zurückkehren. Dort feiert das DDR-Fernsehen die beiden in Propaganda-Filmen als Helden.
Privat läuft es dagegen nicht so gut. Günter Guillaume hat mehrere Affären, Christel lässt sich scheiden. Im Interview mit dem Südwestfunk 1990 räumt der arbeitslose Ex-Agent Günter Guillaume ein, den Rücktritt von Willy Brandt zu bereuen. Auch Brandt selbst wird Zeit seines Lebens mit der Entscheidung hadern. Am 16. Mai 1974 wird in Bonn Helmut Schmidt zum neuen Bundeskanzler gewählt.
Hohe Spionagetätigkeit bis heute
Entgegen dem Gerücht, Erich Honecker habe in Folge der Guillaume-Affäre seine West-Spione aus der BRD abziehen lassen, bleibt die Spionagetätigkeit zwischen Ost und West hoch. Auch nach dem Kalten Krieg und dem Zerfall der Sowjetunion 1991 sei weiterhin kräftig spioniert worden, sagt Gerhard Schindler, von 2012 bis 2016 Präsident des Bundesnachrichtendienstes, in der Sendung Forum bei SWR Kultur.
Wenn heute Spione in Deutschland enttarnt werden, erinnert dies an den Fall Guillaume, auch wenn die Agenten heute vor allem für China und Russland tätig sind. Hinzu kommen immer wieder Fälle von Cyberspionage.
Die heutigen Spione richten vermutlich wesentlichen größeren Schaden an, als es Guillaume möglich war. Aus Sicht von Daniela Münkler hat die Spionageabwehr inzwischen doch einiges dazugelernt. "Natürlich ist auch denkbar, dass man versucht, einen Spion im Kanzleramt zu installieren. Ich denke und hoffe aber, dass man dann mit so einer Affäre anders umgehen würde als 1974."