Probleme nach Elbvertiefung Containerriesen müssen Slalom fahren
Trotz Elbvertiefung müssen Riesenfrachter auf dem Weg zum Hamburger Hafen immer wieder zu flache Stellen umfahren. Verschlickung ist ein größeres Problem als befürchtet. Ist das teure Verkehrsprojekt gescheitert?
Von der Elbvertiefung ist neun Monate nach dem offiziellen Abschluss nicht mehr viel übrig. Wie Recherchen des NDR zeigen, steht eines der größten deutschen Verkehrsprojekte dieses Jahrhunderts mit Kosten von rund 850 Millionen Euro vor dem Scheitern. Die "Fahrrinnenanpassung" sollte den Zugang der großen Containerfrachter zum Hamburger Hafen verbessern. Im April freute Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher sich noch in einer Rede vor dem noblen Überseeclub, dass nun Schiffe "mit 20.000 Containern" den Hafen erreichen könnten.
Auch bei einer rundum gelungenen Elbvertiefung wäre der Wahrheitsgehalt dieser Aussage schon fragwürdig gewesen, denn ein Schiff mit 20.000 Containern an Bord hätte wohl zu viel Tiefgang, es sei denn, die Container wären leer. Durch den Ausbau der Unterelbe sollte der zulässige Tiefgang um einen Meter auf 14,5 Meter bei Flut und auf 13,5 Meter tideunabhängig erhöht werden. Vollbeladene Superfrachter mit 20.000 oder 24.000 Containern haben meist Tiefgänge von 15 Metern und mehr.
Bund hat maximale Tiefgänge heruntergesetzt
Aber nun zeigt sich, dass die angestrebte Tiefe der Fahrrinne gar nicht gehalten werden kann. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) hat die zulässigen Maximaltiefgänge auf der gesamten Unterelbe heruntergesetzt, je nach Schiffstyp um bis zu 80 cm. Diese Einschränkung gelte für eine Dauer von "bis zu zwei Jahren". Das kommt einer weitgehenden Rücknahme der Elbvertiefung gleich, auch wenn der Bund betont, die Fahrrinnenanpassung stehe "nicht in Frage".
Dem NDR liegen zahlreiche schifffahrtspolizeiliche Warnmeldungen vor, die sogenannte "Mindertiefen" entlang der 120 Kilometer langen Strecke von der Elbmündung zum Hamburger Hafen anzeigen. An einer Stelle, warnt die Schifffahrtsverwaltung, sei die Fahrrinne 3,5 Meter weniger tief als vorgesehen. Diese Stelle liegt nur 30 Meter neben der Radarlinie, also mitten in der Trasse, durch die die ganz dicken Pötte fahren. Schiffe mit mehr als 10,3 Meter Tiefgang hätten diese Stelle zu umfahren, heißt es in der Warnmeldung.
Chemiekalientanker auf Grund gelaufen
Die Großschiffe werden auf der Fahrt durch die Unterelbe von Lotsen begleitet. Diese beklagen, "mit 400-Meter-Schiffen" um die Mindertiefen herum "Slalom" fahren zu müssen. Das geht aus einem Schreiben hervor, das der Chef der Lotsenbrüderschaft Elbe, der Ältermann, an seine Mitarbeiter verschickt hat. "Auf der einen Seite wird dargestellt, dass die Fahrrinnenanpassung fertig ist. Auf der anderen Seite können die Tiefen nicht gehalten werden," heißt es in dem internen Papier, das der NDR einsehen konnte. Das Wasser- und Schifffahrtsamt Elbe-Nordsee habe in Gesprächen mit der Lotsenbrüderschaft berichtet, dass es in den Bereichen Peilen, Baggern und Gewässerkunde an Personal mangele, heißt es in dem Dokument weiter.
Dafür, dass in der Unterelbe nicht ausreichend gepeilt wird, hat das NDR-Magazin Panorama 3 weitere Belege. Mindertiefen werden auf sogenannten Peilplänen markiert, die von den Behörden an die Schiffskapitäne und Lotsen übermittelt werden. Am 21. August 2022 war der Peilplan für die Elbfahrrinne zwischen St. Margarethen und Krummendeich nicht aktuell. Um 15 Uhr nachmittags war dort der Chemikalientanker Sten Arnold unterwegs. Bei Tonne 63 lief das nicht besonders große Schiff, das nur einen Tiefgang von 8,5 Meter hatte, auf Grund. Laut Peilkarte hätte an der Stelle eine Navigationstiefe von 11,5 Meter vorherrschen müssen. Zweieinhalb Stunden steckte das Schiff laut Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) fest. Mit auflaufender Flut konnte es sich dann befreien und "unter Schlepperassistenz" seine Fahrt fortsetzen. Ein Schaden sei am Tanker durch den Aufprall nicht entstanden, bekräftigt der norwegische Eigentümer. Das BSU prüft den Vorfall nun.
Auch das Baggern reicht nicht
Bedeutsam ist der Unfall wegen der möglichen Ursachen. Ein Hamburger Polizeisprecher teilte auf Anfrage von Panorama 3 zunächst mit, die Wasserschutzpolizei habe in dem Fall ermittelt und sei zu dem Ergebnis gekommen, der Unterwasserhügel sei das Resultat "natürlicher Verwirbelungen" gewesen. Deshalb habe man die Ermittlungen eingestellt. Trifft dies zu, heißt das, dass die Fahrrinne so schnell durch die natürlichen Strömungen mit Schlick verstopft wird, dass nicht mehr alle Mindertiefen rechtzeitig kartographisch erfasst werden können. Unstrittig ist, dass die Strömungen in der Unterelbe durch die Flussvertiefung stärker geworden sind, mehr Material aus der Nordsee Richtung Hamburger Hafen hineintreiben und von den steiler gewordenen Hängen in die Fahrrinne reißen.
Aber es gibt nach Informationen von Panorama 3 auch eine andere mögliche Ursache. An der Unfallstelle könnte Baggergut abgeladen worden sein. Dies wäre ein Anhaltspunkt für mutmaßlich kriminelles Verhalten und ein weiterer Beleg dafür, dass die Behörden die Schlickbeseitigung nicht mehr im Griff haben. Einen Tag später teilt die Polizei in Hamburg mit, dass sie in der Sache doch noch ermittle.
Klar ist, dass zu viel Schlick in der Fahrrinne liegen bleibt. Dabei wird die Baggermenge in diesem Jahr nach Behördenangaben etwa 40 Millionen Kubikmeter erreichen. Das sind rund zehn Millionen Kubikmeter mehr Material, als für die Elbvertiefung 2019 und 2020 bewegt wurde. Das bedeutet: Für die Unterhaltung der Fahrrinne wird mehr gebaggert als für die Flussvertiefung selbst - und trotzdem reicht es nicht. Die WSV hat angekündigt, dass die Baggerkapazitäten erhöht werden sollen.
Hamburg verliert Ladung an andere Häfen
Die Schlickmengen nach der Elbvertiefung sind höher als prognostiziert, der erhoffte wirtschaftliche Nutzen hat sich nicht eingestellt, denn der Hamburger Hafen verliert Marktanteile gegenüber der Konkurrenz. Zentrale Annahmen, die 2012 im Planfeststellungsbeschluss für die "Fahrrinnenanpassung" getroffen wurden, erweisen sich als falsch. Deshalb fordert der Grünen-Bundestagsabgeordnete Stefan Wenzel, der auch parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium ist, den Planungsprozess für die Elbvertiefung nun "schonungslos aufzuarbeiten". Kritiker der Elbvertiefung hatten die heutigen Probleme mit dem Schlick vorausgesagt - unter anderem Umweltverbände, die erfolglos gegen das Verkehrsprojekt klagten.
Maßgeblich vorangetrieben und gerichtlich durchgesetzt hatte die Elbvertiefung Tschentschers Vorgänger, der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der Hamburg von 2011 bis 2018 als Erster Bürgermeister regierte. Das Projekt sei wichtig, damit Hamburg wettbewerbsfähig und Welthafenstadt bleibe. "Es ist gut, dass die Fahrrinnenanpassung nun kommt," sagte Scholz in einer Regierungserklärung im Februar 2017. Nun, da sich die Zeichen des Scheiterns häufen, haben die Schuldzuweisungen begonnen - Bund und Hamburg werfen sich gegenseitig Versäumnisse vor.
"Kampf um Riesenpötte - wohin steuert der Hamburger Hafen?" läuft heute Abend um 22 Uhr im NDR-Fernsehen. Über das Thema berichtet außerdem Panorama 3 am 18.10.2022 um 21.15 Uhr.