Argentinien in der Krise Wenn bis zu 100 Prozent Inflation droht
Enorme Teuerung, Währungsverfall, hohe Staatsschulden - Argentinien steckt in einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Jahren. Bekommt ein neuer "Superminister" die Probleme in den Griff?
"Mercado del Progreso" steht in spitzen Art-Decó-Lettern auf das Eckgebäude im historischen Caballito-Viertel von Buenos Aires geschrieben: "Markt des Fortschrittes". Die Aufschrift erzählt von goldenen Zeiten, als Millionen europäische Einwanderer in Argentinien ihr Glück suchten.
Starke Wechselkurs-Schwankungen
Doch die lägen weit zurück, seufzt Gemüsehändlerin Marina Alfonzo. Das Geld reiche vorn und hinten nicht mehr: "Alles kostet am Schluss immer mehr, als du kalkuliert hast. Öl, Milch, Eier - was vor drei Wochen noch 100 Pesos gekostet hat, kostet heute 600." Zum Teil seien die Lebensmittel damit um 500 Prozent teurer geworden.
Das spüren auch die Händler selbst: Gustavo Nigro, der in dritter Generation ein Feinkostgeschäft führt, kann seinen wenigen Kunden immer weniger anbieten. Er verkauft Importwaren wie Essig-Gurken, Dijon-Senf oder Alpenmilch-Schokolade - und da bleibt der Nachschub aus: "Mein Problem sind nicht nur die steigenden Preise. Es gibt keine Waren mehr", klagt Nigro.
Denn die Importwaren orientieren sich am Wechselkurs zum Dollar: "Der schwankt so sehr, dass alle verunsichert sind und die Lieferkette nicht mehr funktioniert. Gleichzeitig habe ich selbst Schulden zu bezahlen." Noch könne der Händler seinen Laden offen halten. Aber das werde immer komplizierter.
"Am Rande des sozialen Abgrunds"
Kompliziert ist es in Argentinien eigentlich immer. Aber gerade braut sich ein besonders düsterer Sturm zusammen: Die Landeswährung Peso ist immer weniger wert, der Kurs des Schwarzmarkt-Dollars hat sich in wenigen Monaten verdoppelt, der Schuldenberg wächst, und das Loch im Staatshaushalt wird immer größer.
Doch statt Einsparungen vorzunehmen, rotiert die Notenpresse. Die Inflation könnte zum Jahresende 70 oder sogar 100 Prozent erreichen. Federico Zapata, Ökonom vom Think Tank Escenario, hält die Entwicklung für dramatisch: "Argentinien bewegt sich wirklich am Rande eines wirtschaftlichen und sozialen Abgrunds. Dabei wird die Wirtschaftskrise aber noch angetrieben von einer schweren politischen Krise."
Denn in der Regierungskoalition knirscht es gewaltig. Anfang Juli warf der angesehene Wirtschaftsminister Martin Guzman das Handtuch, seine Nachfolgerin wurde noch während ihres Antrittsbesuches beim Internationalen Währungsfonds in Washington abgesetzt. Bei dem steht das südamerikanische Land mit 44 Milliarden US-Dollar in der Kreide.
Sergio Massa als neuer "Superminister"
Nun soll es Sergio Massa, bisheriger Präsident des Abgeordnetenhauses, richten. Als Superminister vereint der Nicht-Ökonom in Zukunft die Ministerien für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft. Der Versuch von Präsident Alberto Fernandez, die bitter zerstrittene Koalition vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren - und irgendwie regierungsfähig zu bleiben: "Ich möchte jedem Argentinier und jeder Argentinierin sagen: Seid beruhigt. So wie wir immer alle Probleme überwunden haben, werden wir auch dieses überwinden. Wer immer mich brechen will, er wird er nicht schaffen, denn ich weiß, ich kann auf die Unterstützung eines jeden von euch zählen."
Künftig für mehrere Ministerien verantwortlich: Sergio Massa.
Das dürfte sich Präsident Fernandez allerdings nicht einmal selbst glauben. Der Druck nimmt zu, selbst von einstigen Verbündeten. Die größte Gewerkschaft des Landes fordert neue Tarifverhandlungen, soziale Bewegungen wollen ein universelles Grundeinkommen.
Massive Proteste angekündigt
Für Sonntag sind massive Proteste angekündigt. Arbeiterführer und Sozialaktivist Juan Grabois formuliert die Forderungen: "Dass wir zumindest nicht unterhalb der extremen Armutsgrenze leben müssen in einem reichen Land. Wir sind bereit, unser Blut auf der Straße zu lassen, damit etwas gegen den Hunger getan wird."
Mehr als 40 Prozent der 47 Millionen Argentinier gelten inzwischen als strukturell arm. Sozialhilfeprogramme hatten bisher verhindert, dass die explosive Lage eskaliert wie in Kolumbien oder Ecuador, doch auch deren Kaufkraft sinkt. Nun soll Superminister Massa im Dialog mit dem mächtigen Agrarsektor und der Industrie die Lage stabilisieren. Ein Erfolg wäre es derzeit schon, wenn die Regierung bis zum Ende ihrer Amtszeit im Jahr 2023 durchhält.