Macht der Gewerkschaften Eine neue Ära heftigerer Streiks?
Der heutige "Super-Warnstreik" im Öffentlichen Dienst ist beispiellos. Verändert sich die Streikkultur in Deutschland gerade dauerhaft? Manche Experten sehen auch hier eine "Zeitenwende".
Der Aufschrei bei den Arbeitgebern war schon vor dem "Superstreik" groß: Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, sieht die "Akzeptanz für das Streikrecht" gefährdet, die Logistikbranche warnte vor "Versorgungschaos", die Vorsitzende der kommunalen Arbeitgeberverbände, Karin Welge, sprach sogar von einer "Radikalisierung".
Tatsächlich ist dieser Streiktag heute in Deutschland beispiellos. Um Vergleichbares zu finden, muss man schon länger zurückblicken: Die letzten gemeinsamen Gemeinschaftsstreiks gab es Anfang der 1990er-Jahre im Nah- und Fernverkehr sowie an Flughäfen. Doch damals handelte es sich nicht um Warnstreiks. Steht Deutschland - im Vergleich mit anderen europäischen Ländern, allen voran Frankreich, nicht gerade als "streikfreudig" bekannt - in Sachen Streikkultur vor einem radikalen Wandel?
Tarifstreit in der Ausnahmesituation
"Ehrlich gesagt glaube ich das nicht", sagt Thorsten Schulten, Politikwissenschaftler und Experte für Lohn- und Tarifpolitik bei der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung im Gespräch mit dem rbb. Streiks wie jetzt im Öffentlichen Dienst fielen von Natur aus den Menschen eher auf als etwa in der Metallindustrie - einfach, weil fast jeder von den Folgen betroffen sei.
Ungewöhnlicher sei da schon der Zeitpunkt: Dass wie heute gestreikt werde, während in Potsdam zeitgleich die dritte Runde der Tarifverhandlungen beginnt, komme nicht so häufig vor. Von einer Zeitenwende könne man aber noch nicht sprechen. Die aktuelle Situation mit Inflation, Energiekrise und Corona sei eine Ausnahmesituation, sagt Schulten. "Wenn diese sich noch jahrelang hinziehen würde, dann könnte ich mir das vorstellen. Alle Prognosen, die wir von den Wirtschaftsforschungsinstituten haben, gehen aber davon aus, dass wir es ab 2024 oder 2025 wieder mit einer gewissen Normalisierung der ökonomischen Situation zu tun haben - wenn nicht wieder etwas weltpolitisch Außergewöhnliches oder Pandemisches passiert."
Gemeinsame Warnstreiks als Novum
Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht durchaus eine neue Ebene. Zwar hätten auch in den 1980er- und 1990er-Jahren unterschiedliche Gewerkschaften gemeinsam gestreikt - allerdings immer unbefristet. "Bei Warnstreiks ist das neu", sagt Lesch im Gespräch mit tagesschau.de. Weniger der Zeitpunkt sei ungewöhnlich; vielmehr habe die Intensität der Streiks in seinen Augen spürbar zugenommen. Mit positivem Effekt für die Gewerkschaften: "Wir stehen an einer Schwelle zur Neuausrichtung des Streiks", sagt Lesch. Er habe den Verdacht, dass es manchmal nicht mehr um tarifpolitische Ziele gehe, sondern darum, möglichst viele Mitglieder zu bekommen.
Tatsächlich zahlt sich der Streik für ver.di bislang aus: 50.000 neue Mitglieder sind nach Angaben der Gewerkschaft im Januar und Februar dazugekommen. "Streik-Auseiandersetzungen sind natürlich immer Zeiten, in denen Gewerkschaften mehr Mitglieder gewinnen als in ruhigen Zeiten", sagt Politikwissenschaftler Schulten. Ob der Trend allerdings auch am Jahresende noch Bestand habe, müsse man sehen.
"Französische Streikkultur" als Vorbild?
Eine Grenze überschreite ver.di allerdings, wenn es um Kooperationen mit politischen Organisationen wie "Fridays for Future" gehe, findet IW-Ökonom Lesch. Vor wenigen Wochen gingen beide Organisationen zusammen auf die Straße, davor auch schon einmal 2020, im Tarifkonflikt im öffentlichen Personennahverkehr. "Hier droht die Gefahr, dass die Grenze zwischen politischem und tarifpolitischem Streik verschwimmt", sagt Lesch. Rein rechtlich dürfen Streiks in Deutschland - anders als etwa in Frankreich - nur zur Durchsetzung tarifpolitischer Ziele genutzt werden; dass zwei Gewerkschaften gleichzeitig zu Streiks aufrufen, ist kein Problem. "Ich finde es bedenklich, dass wir in eine Streikkultur hereinwachsen, die sich der französischen Streikkultur nähert", sagt Lesch. Er glaube nicht, dass irgendjemand das gutheißen könne.
Von einer "Zeitenwende" spricht auch Marcel Fratzscher, Präsident im Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). "Die Zeiten eines Arbeitgebermarktes, in dem Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Löhne und Arbeitsbedingungen mehr oder weniger diktieren konnten, scheinen vorbei", sagt Fratzscher. Durch den Fachkräftemangel habe die Arbeitgeberseite deutlich weniger Macht als noch vor einiger Zeit - auch wenn viele das noch nicht wahrhaben wollten. "Der Arbeitskampf und der Mega-Streik im Verkehrssektor sind das logische Resultat dieser Zeitenwende." Für die kommenden Jahre erwarte er eine deutliche Zunahme der Arbeitskämpfe in Deutschland.
Gespaltenes Stimmungsbild in der Bevölkerung
Doch macht die Bevölkerung weitere "Superstreiks" wie heute im öffentlichen Dienst auf Dauer mit? Montagmorgen, Hauptbahnhof Freiburg im Breisgau. Viel ist nicht los. Aber einige Reisende und Pendler sind hier doch gestrandet. "Ein komplettes Land lahmzulegen, finde ich zu heftig", sagt eine Frau. "Es ist ein Tag, das überlebe ich", findet eine andere.
Kein ungewöhnliches Stimmungsbild. Laut aktuellem ARD-DeutschlandTrend unterstützt eine knappe Mehrheit die Lohnforderungen im Öffentlichen Dienst. Dennoch werden auch die Stimmen derer lauter, die eine Beschränkung des Streikrechts fordern - vor allem im Bereich der kritischen Infrakstruktur. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA im Auftrag der Mittelstands- und Wirtschaftsunion der Unionsparteien befürworten 60 Prozent der Deutschen schon jetzt, das Streikrecht in diesem Bereich einzuschränken.
"Gewerkschaften können den Bogen auch überspannen", sagt IW-Wirtschaftsforscher Lesch. So sei es möglich, dass die Öffentlichkeit die Forderungen der Gewerkschaften mittrage. Aber: Wenn sie zu oft etwa durch Bahn- oder Kita-Streiks getroffen werde, könne das den Gewerkschaften irgendwann auch entgegenschlagen.