Uber, Helpling und Co. Der trügerische Schein der Selbstständigkeit
Pläne der Europäischen Union für ein Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit auf Digitalplattformen sind vorerst gescheitert. Etwa fünf Millionen Menschen könnten laut EU eigentlich Angestellte sein.
Egal, ob man schnell eine Putzkraft per App buchen will oder nachts ein Auto rufen, um sich nach Hause bringen zu lassen - die sogenannte Plattformökonomie boomt.
Das spiegelt sich auch in den Mitarbeiterzahlen wider. Laut EU-Angaben gab es vor zwei Jahren europaweit bereits etwa 28 Millionen Menschen, die bei großen Digitalplattformen als Essenskuriere, Fahrerinnen, Reinigungskraft oder "Clickworker" arbeiten. Bis 2025 könnte die Zahl demnach auf mehr als 40 Millionen in der EU ansteigen.
Doch während in Deutschland Plattformunternehmen ihre Mitarbeiter mittlerweile öfter anstellen, haben europaweit laut EU-Kommission nur die wenigsten Plattformarbeitenden einen Arbeitsvertrag. 93 Prozent der Plattformarbeiter seien davon Selbstständige, schätzt die EU. Doch von diese Selbstständigen könnten laut EU-Kommission mehr als fünf Millionen Menschen eigentlich Angestellte sein. Und hätten damit einen gesetzlichen Anspruch auf den örtlichen Mindestlohn, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlten Urlaub oder Mutterschutz.
Keine Mehrheit unter den EU-Staaten
Doch weil Beschäftigte oft keinen physischen Chef oder Chefin haben, sondern von Algorithmen Aufträge erhalten, ist es in vielen Fällen für die einzelnen Arbeiter oft mit hohen Hürden verbunden, ihren korrekten Status durchzusetzen. Die EU-Kommission wollte genau das mit ihrer Plattformarbeitsrichtlinie künftig ändern. Es wäre das weltweit erste solche Gesetz.
Bei einer Abstimmung im Rat fand sich heute unter den Vertretern der Mitgliedstaaten allerdings keine Mehrheit dafür. Man werde nun "über die nächsten Schritte nachdenken", teilte die belgische Ratspräsidentschaft mit.
Vorgesehen in dem Gesetz zur Plattformarbeit waren erleichterte Verfahren für eine Reklassifizierung. Diese sollen die Länder einführen. Der zentrale neue Punkt des geplanten EU-Gesetzes war allerdings die Beweislastumkehr. Sind erst einmal gewisse Verdachtskriterien erfüllt, die für eine Anstellung sprechen, wäre es demnach Aufgabe der Plattformen, zu beweisen, dass Arbeiter Selbstständige sind.
Dazu sah das Gesetz Regeln zum algorithmischen Management vorgesehen. Etwa, dass ein Mensch es kontrollieren muss, wenn ein Plattformarbeiter von einem Dienst gesperrt wird. Das dürfte dann künftig nicht mehr automatisiert durch Algorithmen erfolgen.
Typische Indikatoren von einem Angestelltenverhältnis sind, dass die Beschäftigten nicht frei darüber entscheiden können, wie viel sie verdienen, wann und in welchem Umfang sie arbeiten, dass sie gewisse Aufträge nicht ablehnen oder weitergeben können oder Arbeit in einer gewissen Weise erfüllen müssen. Dazu kommt Weisungsgebundenheit. Diese Kriterien sind Indizien, insgesamt wird bei der juristischen Klärung allerdings die Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls berücksichtigt.
Schwieriger Kampf vor Gericht - oft mit Erfolg
Dass es derzeit gar nicht so einfach ist, als Plattformarbeiter zu seinem Recht zu kommen, zeigt der Blick nach Deutschland. In Deutschland ist 2020 erstmals ein Plattformarbeiter vor dem Bundesarbeitsgericht zum Angestellten erklärt worden. Arbeitsrechtler Rüdiger Helm, der den Mann vertreten hat, sagte gegenüber tagesschau.de: "Die Hürde war extrem hoch. Das ging nur, weil der Mann wirklich akribisch alles zu seiner Arbeit dokumentiert hat."
Normalerweise sei das sehr schwer, gerade weil vielen der Zugang zu den Daten über die eigene Arbeitsleistung fehlt. Etwa wenn Plattformen User nach deren Ausscheiden deaktivieren und diese ihre früheren Aufträge nicht mehr einsehen können.
Dennoch hat es in den vergangenen Jahren verschiedene erfolgreiche Verfahren in diversen EU-Ländern gegeben. Die Kommission argumentierte in ihrer Gesetzesbegründung sogar, dass diese erfolgreichen Prozesse eine "andauernde Missklassifikation" durch die Plattformen zeige. Die Plattformen hätten ihre Geschäftsmodelle als Reaktion auf diese Urteile so abgeändert, dass es noch größere Unsicherheit über den legalen Beschäftigungsstatus gebe.
Unternehmen versuchen Zwischenstatus zu etablieren
Das beobachtet auch Oğuz Alyanak. Der Wissenschaftler an der Universität Oxford erforscht seit Jahren Arbeitsbedingungen auf Digitalplattformen, unter anderem für das Fair Work-Projekt. "Es gibt Versuche einen neuen Zwischenstatus zu etablieren, der zwischen Selbstständigkeit und Angestelltentum verortet ist", sagte er tagesschau.de. In Deutschland gibt es entgegen dem generellen EU-Trend aber recht viele Angestellte bei den Plattformen.
Auf Selbstständige oder einen Zwischenweg zu setzen, das kann ökonomisch für die Plattformen Sinn ergeben. Denn wer sich nicht fest an Arbeitskräfte bindet - und Mindestlöhne und Co. wenn, dann nur freiwillig zahlt - kann sparen. Doch diese Zwischengruppe sei problematisch, kritisiert Alyanak. "Entweder ist man angestellt oder man ist selbstständig." Er sieht die Gefahr, dass geltende Arbeitsstandards so ausgehöhlt werden. Der Forscher begrüßt daher die ursprünglichen Pläne der EU.
Move EU: Arbeiter wollen selbstständig sein
Einige Digitalplattformen hatten sich dagegen vehement gegen den Vorstoß gewehrt - mit dem Argument, dass eine Reform nicht im Sinne der Arbeiter sei. "Die Fahrer wollen unabhängig bleiben, ihr eigenes Unternehmen führen und plattformübergreifend arbeiten können", teilt etwa der Lobbyverband Move EU in einer Pressemeldung mit. Der Verband vertritt unter anderem die Fahrdienstleister Uber, Bolt und Freenow und verweist auf verschiedene Studien. Darin betonen die Plattformarbeitenden vor allem die Vorteile der Flexibilität und würden diese sogar einer Lohnerhöhung um mindestens 15 Prozent vorziehen. Allerdings wurden einige der Studien von den Konzernen selbst beauftragt.
Ganz anders ist dagegen die Wahrnehmung des Wissenschaftlers Alyanak vom Fair Work-Projekt. Er sagte tagesschau.de: "Wenn wir Plattformarbeiter befragen, dann wünschen sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Mindestlöhne."
Auch der deutsche Lieferdienst Lieferando, der zum Konzern Just Eat Takeaway gehört, hatte sich für eine EU-Regelung ausgesprochen. Die Richtlinie sei ein wichtiger Schritt zur Klärung des Beschäftigungsstatus sowie angeglichenen Wettbewerbsbedingungen. "Wer rechtmäßig in Selbständigkeit arbeitet, muss aufgrund ihrer hervorragenden Definitionen keine Neueinstufung befürchten, weder auf noch abseits von Arbeitsplattformen", teilte der Konzern mit.
Widerstand der FDP
Gleichzeitig warnte Arbeitsrechtler Helm vor überzogenen Erwartungen. "Bei der Entgeltgleichheit und dem Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz haben wir auch eine Beweislastumkehr. Dort bringt diese bisher aber nicht sonderlich viel."
Bei der Abstimmung der EU-Staaten hatte sich unter anderem die Bundesregierung enthalten. In der Ampel-Koalition war das Vorhaben strittig. Insbesondere die FDP wandte sich gegen das Gesetz. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) begrüßte die gescheiterte Abstimmung heute. "Wir haben in Deutschland geeignete Verfahren, um den Beschäftigungsstatus von Plattformtätigen korrekt zu ermitteln", so der Verband. "Eine EU-Richtlinie, die unnötigerweise in unser deutsches Arbeitsrecht eingreift, ist daher überflüssig."
In einer ersten Version des Artikels hatten wir als Beispiele für "Plattformökonomie" auch Lieferando und Getir genannt. Da diese Unternehmen Beschäftigte fest anstellen, haben wir dies geändert.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen