Diskussion über gesetzlichen Mindestlohn Gerecht oder gefährlich?
Für die einen bedeutet er Gerechtigkeit, die anderen befürchten den Verlust von Arbeitsplätzen: Der gesetzliche Mindestlohn spaltet Politik, Wissenschaft und Verbände. tagesschau.de beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema.
Wo gibt es in Deutschland bereits einen Mindestlohn?
Bislang gibt es in Deutschland, anders als in vielen anderen europäischen Ländern, keinen gesetzlichen Mindestlohn. Das deutsche Grundgesetz garantiert in Art. 9, Abs. 3 die Tarifautonomie. Das bedeutet: Die Tarifparteien haben das Recht, Löhne ohne staatliche Eingriffe auszuhandeln. Die Tarifparteien können aber Mindestlöhne bzw. Lohnuntergrenzen vereinbaren. Wenn eine solcher Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt wird, gilt er auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und -nehmer.
Solche branchenspezifischen Mindestlöhne gibt es in 14 Branchen: Baugewerbe, Bergbau, Aus- und Weiterbildung, Dachdecker, Elektrohandwerk, Gebäudereinigung, Maler und Lackierer, Pflege, Sicherheitsdienstleistungen, Wäschereidienstleistungen, Abfallwirtschaft, Steinmetze, Frisörhandwerk und Zeitarbeit. Insgesamt erhalten in Deutschland etwa 3,9 Millionen Beschäftige einen tariflich abgesicherten Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro pro Stunde.
Welche Gesetze ermöglichen einen Mindestlohn?
Die hierzulande gängige Grundlage für Lohnuntergrenzen in einzelnen Branchen ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Damit setzte die Bundesregierung 1996 eine EU-Richtlinie um: Nach der Öffnung des Arbeitsmarktes in Europa sollte verhindert werden, dass es zu Lohndumping kommt, falls ausländische Arbeitnehmer zwar höher als in ihren Heimatländern bezahlt werden würden, aber (sehr viel) niedriger als in Deutschland üblich.
Die Lohnuntergrenzen werden von den Tarifpartnern ausgehandelt und dann auf Antrag vom Arbeitsminister zusammen mit einem Ausschuss aus Arbeitgebern und -nehmern für allgemein verbindlich erklärt. Diese Mindestlöhne gelten dann auch für die nicht tarifgebundenen Betriebe der Branche.
Ein andere gesetzliche Grundlage ist das Mindestarbeitsbedingungsgesetz (MiA). Die große Koalition hat es 2009 in Kraft gesetzt. Das MiA soll dann greifen, wenn für weniger als 50 Prozent der Arbeitnehmer einer Branche ein Tarifvertrag gilt. Es sieht vor, dass eine Kommission aus Vertretern der Wissenschaft, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Antrag tätig werden kann, wenn sie in einem Bereich "soziale Verwerfungen" ausmacht.
Die Kommission kann daraufhin einen branchenbezogenen Mindestlohn festlegen, den die Bundesregierung dann erlässt. Der entsprechende Hauptausschuss unter Vorsitz des Hamburger Ex-Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi hat allerdings nur einmal von sich reden gemacht: Im Juli 2011 lehnte das Gremium einen Mindestlohn auf MiA-Grundlage für externe Call-Center ab.
Verboten sind in Deutschland sittenwidrige Löhne. Sittenwidrig ist ein Lohn dann, wenn er weniger als zwei Drittel des Tariflohns beträgt, der in Branche und Region üblicherweise gezahlt wird. Sittenwidrige Löhne sind nichtig. An ihre Stelle tritt der Anspruch auf die übliche Vergütung.
Wer steht wie zum Mindestlohn?
Die CDU bekennt sich grundsätzlich zu flächendeckenden Mindestlöhnen in Deutschland, will aber keine Höhe vorgeben. Eine Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften soll entsprechende Lohnuntergrenzen aushandeln - in den Bereichen, in denen es keinen tarifvertraglich festgelegten Lohn gibt. Die Rede ist von einer "tarifoffenen, allgemein verbindlichen Lohnuntergrenze", die auf Grundlage von Tarifverträgen aber auch unterschritten werden dürfe. Ausnahmen sollen je nach Region und Branche möglich sein, wenn sie gerechtfertigt seien.
Das Modell der SPD sieht vor, dass die genaue Höhe des Mindestlohns von einer Kommission bestimmt werden soll, aber bei mindestens 8,50 Euro brutto je Stunde liegen muss. Die Mindestlohnkommission soll aus einem Vorsitzenden und acht weiteren Mitgliedern bestehen, die zum Teil vom Bundesarbeitsministerium berufen werden sollen. Die restlichen Mitglieder sollen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände stellen. Der Mindestlohn soll jährlich angepasst werden.
Die Partei Die Linke geht noch weiter: Sie will eine Lohnuntergrenze von mindestens 10 Euro, die jährlich zumindest in dem Maße ansteigen soll, wie die Lebenshaltungskosten steigen. Wenn in einer Branche der unterste Tariflohn über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, soll dieser für allgemeinverbindlich erklärt werden.
Auch die Grünen wollen, dass künftig eine Kommission aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaft einen flächendeckenden Mindestlohn festlegt - immer dann, wenn die Tarifparteien in den Branchen nicht stark genug seien, um faire Mindestlöhne durchzusetzen. Der gesetzliche Mindestlohn soll aber wenigstens 7,50 Euro betragen.
Die Arbeitgeber wenden sich gegen jede Form gesetzlich verordneter Mindestlöhne und berufen sich auf die Tarifautonomie. Wegen dann steigender Arbeitskosten gehen sie davon aus, Arbeitsplätze abbauen zu müssen. So rechnet das ifo Institit für Wirtschaftsforschung mit 1,2 Millionen Arbeitslosen mehr, würde ein Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt.
Die Caritas plädiert dafür, die Höhe von Mindestlöhnen nicht parlamentarisch oder allein durch die Tarifpartner festzulegen. Sie schlägt Kommissionen nach britischem Vorbild vor, in denen auch Wissenschaftler vertreten sein sollten. Besser als ein einheitlicher Mindestlohn seien branchenspezifische und regional differenzierte Lohnuntergrenzen.
In welchen EU-Ländern gelten Mindestlöhne?
In 21 der 28 EU-Mitgliedsstaaten gilt ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn - allerdings in sehr unterschiedlichen Höhen. Spitzenreiter ist Luxemburg mit einer Lohnuntergrenze von 10,83 Euro, gefolgt von Frankreich, Belgien und den Niederlanden mit einem Mindestlohn von rund neun Euro. Im Mittelfeld liegen Spanien (3,91 Euro), Griechenland (3,35 Euro), Portugal (2,92 Euro) und Polen (umgerechnet 2,21 Euro). Die Schlusslichter sind Bulgarien (umgerechnet 0,95 Euro) und Rumänien mit umgerechnet 0,92 Euro.
Wann wird über den gesetzlichen Mindestlohn entschieden?
Während der Koalitionsverhandlungen dürfte die Frage nach einem gesetzlichen Mindestlohn zur Chefsache werden. Entscheidungen über die Höhe des Mindestlohns, mögliche Differenzierungen zwischen Ost und West oder Ausnahmen für junge Leute fallen wohl erst gegen Ende und könnten letzten Endes ausschlaggebend dafür sein, ob es überhaupt zu einer schwarz-roten Koalition kommt.
Verwandt mit dem Mindestlohn ist das Vorhaben, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu erleichtern. Dabei geht es um die tariflich vereinbarte Lohnuntergrenze, die per Verordnung für eine ganze Branche vorgeschrieben werden. Die Voraussetzungen dafür wollen Union und SPD erleichtern.
Schnellere Entscheidungen sind über andere arbeitsmarktpolitische Instrumente zu erwarten. So ist damit zu rechnen, dass der Einsatz von Leiharbeitern zeitlich begrenzt wird. In der Vergangenheit war immer wieder beklagt worden, dass die (teurere) Stammbelegschaft durch (günstigere) Leiharbeiter ersetzt wird. Ähnliches gilt für den Missbrauch von Werkverträgen, die mitnichten das Erbringen einer bestimmten Leistung durch ein Subunternehmen regeln, sondern ganze Produktionsabschnitte kostengünstig auslagern. Bereits ins Aussicht gestellt ist ein Gesetz zur Tarifeinheit. Danach würde für einen Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten. Spartengewerkschaften für Lokführer, Krankenhausärtzte oder Piloten verlören an Einfluss.