Interview zur Lage auf dem Lehrstellenmarkt ''Die Schulen qualifizieren an den Jugendlichen vorbei"
Obwohl die Wirtschaft beim Ausbildungspakt nachgelegt hat, sieht Arbeitsmarktforscher Christe keinen Grund für Euphorie. Im tagesschau.de-Interview fordert er unter anderem, den Fokus mehr auf die Schulen zu legen. Sie "qualifizieren an den Jugendlichen vorbei", so Christe.
Obwohl die Wirtschaft beim Ausbildungspakt nachgelegt hat, sieht Arbeitsmarktforscher Christe keinen Grund für Euphorie. Im tagesschau.de-Interview fordert er unter anderem, den Fokus mehr auf die Schulen zu legen. Sie "qualifizieren an den Jugendlichen vorbei", so Christe.
tagesschau.de: Der Ausbildungspakt ist offiziell um drei Jahre verlängert worden. Zudem hat die Wirtschaft angekündigt, die Anzahl der Lehrstellen pro Jahr auf 60.000 verdoppeln zu wollen. Ein Grund für Jubelstimmung?
Gerhard Christe: Nein. Dass es den Ausbildungspakt gibt und dass man sich darüber verständigt, ist sehr nützlich und sinnvoll, aber angesichts der vorliegenden Zahlen gibt es überhaupt keinen Grund für Euphorie. Seit der Einrichtung des Paktes ist es zwar zu einer Steigerung der Ausbildungsstellen gekommen, gleichzeitig ist die Lehrstellenlücke aber immer größer geworden. Jubeln ist nicht angebracht. Dafür haben wir viel zu viele Altbewerber, die sich jedes Jahr aufs Neue und oftmals erfolglos um einen Ausbildungsplatz bemühen.
Nur ein Viertel der Betriebe bildet aus
tagesschau.de: Woran liegt das?
Christe: Zum einen ist die Ausbildungsplatzsituation extrem konjunkturabhängig.
Gleichzeitig hat die Zahl der Schulabgänger in den vergangenen Jahren zumindest in Westdeutschland massiv zugenommen.
Außerdem bildet insgesamt nur etwa ein Viertel aller Betriebe in Deutschland aus. Von den übrigen drei Vierteln sind nicht alle ausbildungsberechtigt, aber auch von den berechtigten bildet rund die Hälfte nicht aus. Als ein Grund wird angeführt, die Ausbildung sei zu teuer. Andere Betriebe behaupten, keine geeigneten Bewerber zu bekommen. Insbesondere ostdeutsche Betriebe argumentieren, sie könnten ihre Lehrlinge nach der Ausbildung nicht weiter beschäftigen. Das Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist diesen Argumenten nachgegangen und kommt zu dem Schluss, dass sie nur teilweise stichhaltig sind.
tagesschau.de: Der DGB fordert eine Ausbildungsplatzumlage. Wäre das sinnvoll?
Christe: Betriebe motivieren zu wollen, auszubilden, finde ich richtig. Ich habe nur meine Zweifel, ob die Ausbildungsplatzumlage in diese Richtung wirkt. Sich quasi freizukaufen, wäre besonders für die Großbetriebe ein Leichtes und würde zu nichts führen. Im Bausektor scheint es zwar zu funktionieren, aber ob das so übertragbar auf andere Branchen ist – da bin ich skeptisch. Man muss die Argumente der Arbeitgeber auch ernst nehmen.
tagesschau.de: Ein umstrittenes Instrument des Ausbildungspaktes ist die so genannte Einstiegsqualifizierung, die berufsvorbereitend wirken soll. Kritiker meinen, dass sie vor allem dem Zweck dient, schwer vermittelbare Jugendliche aus der Statistik verschwinden zu lassen. Teilen Sie diese Auffassung?
Christe: In der wissenschaftlichen Begleitung dieses Programms wird auch nach der subjektiven Wahrnehmung der Jugendlichen gefragt. Mehr als 80 Prozent sagen, sie hätten viele berufspraktische Dinge gelernt, viel über Anforderungen von Betrieben erfahren, ein besseres Wissen über den eigenen Berufswunsch bekommen sowie neue Kontakte geknüpft. Das ist ein ausgesprochen positives Ergebnis. Das darf man nicht unterschätzen. Zudem werden knapp 70 Prozent der Teilnehmer anschließend auch als Lehrlinge eingestellt.
Der Staat ist gefragt
tagesschau.de: Das heißt, sie müssen durch eine solche Maßnahme erst auf eine Ausbildung vorbereitet werden. Ein Beweis für das Argument von Arbeitgebern, viele Bewerber seien nach der Schule nicht ausreichend qualifiziert?
Christe: Man muss ganz sicher an die Schulen ran. Es kann nicht sein, dass zehn Prozent eines Altersjahrgangs ohne Abschluss die Schule verlassen. Die schulische Qualifikation muss verbessert werden. Die Schulen qualifizieren an den Jugendlichen vorbei. Wenn Jugendliche nicht die Grundfertigkeiten wie Schreiben, Lesen und Rechnen lernen, ist das eine Versündigung an den Jugendlichen. Diese fehlende Qualifikation hat natürlich Auswirkungen auf den Berufseinstieg. Man muss aber auch die Betriebe fragen, ob die Anforderungen an die Jugendlichen für die Ausbildung in vielen Fällen nicht vielleicht überhöht sind. Das aber ist in erster Linie Aufgabe von Bildungspolitik – also die des Staates.
Das Interview führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.