Interview mit Tarif-Experte Bispinck "Mindestlohn hat positive Auswirkungen"
In der Debatte um die Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohns gehen die Meinungen weit auseinander. Die Bundesregierung hat angekündigt, das Für und Wider zu prüfen und im Herbst konkrete Vorschläge für den Niedriglohnsektor vorzulegen. Der Tarifexperte der Hans-Böckler-Stiftung, Reinhard Bispinck, erklärt im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio, was ein Mindestlohn bringen könnte und wie Deutschland dabei von den Erfahrungen anderer EU-Länder profitieren kann.
ARD-Hauptstadtstudio: Was spricht aus Ihrer Sicht gegen einen gesetzlichen Mindestlohn, der sich an den untersten Tariflöhnen festmacht und der branchen- und regionalbezogen ist?
Reinhard Bispinck: Erstens erfassen wir längst nicht mehr alle Beschäftigten mit Tarifverträgen. In Ostdeutschland sind fast 50 % der Beschäftigten, in Westdeutschland sind fast 30 % ohne Tarifverträge. Zweitens sind in manchen Tarifverträgen Armutslöhne von vier oder fünf Euro die Stunde festgeschrieben, das reicht für einen angemessenen Lebensunterhalt nicht aus. Drittens haben wir zahlreiche Tarifverträge, also hätten wir auch ganz viele tarifliche Mindestlöhne. Die sind schwer zu kontrollieren und schwer zu überprüfen.
ARD-Hauptstadtstudio: Was spricht für einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn für ganz Deutschland ?
Bispinck: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn zieht eine Untergrenze ein, unterhalb derer in Deutschland niemand arbeiten soll. Das wäre sozusagen eine gesellschaftliche Vorgabe, die von allen einzuhalten ist. Ein solcher Mindestlohn wäre einfach, klar zu vermitteln und demzufolge auch gut zu kontrollieren.
Dr. Reinhard Bispinck leitet bei der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf das Referat Tarifpolitik/Tarifbeziehungen
ARD-Hauptstadtstudio: Arbeitgeber zum Beispiel im Friseurhandwerk sagen den Abbau von zahllosen Arbeitsplätzen voraus, sollte ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn für Deutschland kommen. Denn der sei nicht zu bezahlen. Ist das zu erwarten?
Bispinck: Die Erfahrungen aus anderen Ländern, insbesondere Großbritannien, zeigen, dass auch kleine Gewerbetreibende und das Dienstleistungsgewerbe sehr wohl in der Lage sind, einen gesetzlichen Mindestlohn zu verkraften. Wenn die Sprünge vom jetzigen Lohn zum Mindestlohn zu groß sein sollten, kann man über eine Übergangszeit von eineinhalb bis zwei Jahren nachdenken, in denen sich die Betriebe auf den neuen gesetzlichen Mindestlohn einstellen können.
ARD-Hauptstadtstudio: In manchen Dienstleistungsbranchen gibt es eine Konkurrenz mit Billiglöhnen, vor allem bei nicht tarifgebundenen Arbeitgebern. Was könnte der Mindestlohn da ausrichten?
Bispinck: Auch hier kann der Mindestlohn eine Stabilisierungsfunktion haben, in dem Maße, wie er gesellschaftlich anerkannt und gut kontrolliert wird. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um auch Schwarzarbeit zurückzudrängen und eine Stabilisierung der Einkommen an der unteren Einkommensgrenze zu erreichen.
ARD-Hauptstadtstudio: Kann der gesetzliche Mindestlohn die deutsche Wirtschaft anregen ?
Bispinck: Der Mindestlohn hat auch positive wirtschaftliche Auswirkungen. Erstens stabilisiert er die Nachfrage am unteren Einkommensende, zweitens verringert er die notwendige ergänzende Sozialhilfe für Niedrigeinkommensbezieher, und drittens verbessert er auch die Steuereinnahmen, denn Leute mit einem Mindestlohn zahlen mehr Lohn und Einkommenssteuer.
Das Interview führte Thomas Kreutzmann, ARD-Hauptstadtstudio Berlin