Interview

Interview zur Streikbereitschaft in Deutschland Die Opferbereitschaft ist erschöpft

Stand: 03.07.2007 16:11 Uhr

Bahn, Bau, Telekom - nicht zum ersten Mal in diesem Jahr mündet ein Tarifkonflikt in einen Streik. Gibt es eine wachsende Neigung zum Arbeitskampf? Der Gewerkschaftsexperte Esser sagt im Interview mit tagesschau.de: Die Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen nimmt zu.

Nicht nur die Bahnbeschäftigten streiken, auch in der Baubranche gehen die Arbeitsniederlegungen weiter, und der Streik bei der Telekom ist erst vor kurzem zu Ende gegangen. Gibt es eine wachsende Neigung zum Arbeitskampf? Darüber sprach tagesschau.de mit dem Gewerkschaftsexperten Prof. Josef Esser.

tagesschau.de: Gibt es eine wachsende Neigung bei den Gewerkschaften zum Streik?

Josef Esser: Die ist eindeutig gegeben. Die Gewerkschaften sind durch die Bank der Meinung, dass sie sich bei den Löhnen in den vergangenen Jahren sehr zurückgehalten und alle möglichen Veränderungen der Arbeitsbedingungen mitgetragen haben. Jetzt boomt die Wirtschaft, und jetzt haben sie nach ihrer Meinung auch das Recht, daran beteiligt zu werden.

tagesschau.de: Wächst gleichzeitig in der Bevölkerung das Verständnis für Arbeitskämpfe?

Esser: Das Verständnis wächst schon seit einigen Jahren. Man konnte es beim Streik im Öffentlichen Dienst 2006 beobachten. Schon da war die Zustimmung zu den Streikaktionen der Müllarbeiter viel höher als früher, und das hat sich fortgesetzt. Auch die Bevölkerung ist „streikfreudiger“. Man ist der Ansicht, dass die Gerechtigkeitsfrage viel stärker thematisiert werden muss. Die Menschen nehmen wahr, dass die Manager sehr viel Geld verdienen und die Unternehmen durch die massiven Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen der vergangenen Jahre hohe Gewinne erzielen. Sie glauben, dass es deshalb einfach an der Zeit ist, dass das für die Bevölkerung Früchte trägt und sie nicht immer diejenigen sind, die Opfer bringen müssen.

Unzufriedenheit ist keine neue Erscheinung

tagesschau.de: Das bedeutet aber auch, dass die Streikneigung schon vor dem Aufschwung zugenommen hat.

Esser: Der Aufschwung spielt hierfür nicht die zentrale Rolle. Schon vor zwei Jahren war diese Unzufriedenheit und die Protesthaltung gegen den permanenten Appell an die Opferbereitschaft erkennbar. Aber der Aufschwung hat bei den Arbeitnehmern den Eindruck geweckt, dass sie jetzt größere Chancen haben, ihre Forderungen durch Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen.

Zur Person
Josef Esser ist Professor für Politikwissenschaften und politische Soziologie an der Johann-Wolfgang- Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dort forscht und lehrt er unter anderem über die Rolle der Gewerkschaften in der Arbeitswelt.

tagesschau.de: Abgesehen von dem Wunsch nach einer persönlichen Einkommensverbesserung - ist auch das Gespür für schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse gewachsen?

Esser: Eindeutig. Statistiken zeigen auf, dass sich das Gefälle zwischen Reich und Arm vergrößert. Die Menschen stellen fest, dass die Durchschnittslöhne häufig nicht ausreichen, um die gestiegenen Lebenshaltungskosten abzudecken – angefangen von der Miete bis hin zu den Sozialversicherungen. Deshalb denken viele intensiver darüber nach, ob die derzeitigen Einkommen noch angemessen sind für ein sogenanntes normales oder vernünftiges Leben. Deshalb diskutiert auch ein Lokführer stärker darüber, ob er mit 1500 Euro netto auskommt oder nicht.

"Die Angst vor Jobverlust bremst nicht mehr"

tagesschau.de: Ist zugleich die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust oder vor einer Verlagerung von Jobs ins Ausland zurückgegangen?

Esser: Natürlich haben die Arbeitnehmer weiter Angst, ihren Job zu verlieren. Nach meiner Erfahrung ist es aber nicht die Angst davor, dass die Arbeitsplätze nach Asien oder Osteuropa abwandern. Vielmehr befürchten sie, dass ihre Jobs in den Unternehmen selbst durch eine Vielzahl von neuen Arbeitsverhältnissen in Form von Leih-, Zeit- oder Niedriglohnarbeit gefährdet sind. Die Zunahme der Arbeitsplätze ist den vergangenen Jahren ja im wesentlichen durch solche Beschäftigungsverhältnisse zustande gekommen. Deswegen ist die Angst vor einem Jobverlust sogar noch gewachsen. Aber: Diese Angst bremst nicht mehr. Sie führt heute nicht mehr dazu, dass man alles hinnimmt und sich nicht wehrt. Man ist offenbar stärker bereit, trotz der Angst gegen diese Entwicklung vorzugehen. Natürlich differiert das von Branche zu Branche, Unternehmen zu Unternehmen und Region zu Region.

Soziale Frage beeinflusst Wahlen

tagesschau.de: Könnte die soziale Frage auch eine bestimmende Rolle in den kommenden Wahlkämpfen spielen und das Wahlverhalten beeinflussen?

Esser: Sie hat schon in der Bundestagswahl 2005 eine Rolle gespielt. Auch deshalb hat das angepeilte Bündnis von Union und FDP keine Mehrheit bekommen. Die soziale Frage hat auch die darauffolgenden Wahlkämpfe in den Bundesländern beeinflusst und wirkt sich inzwischen sogar auf Kommunalwahlen aus. Der Trend geht eindeutig dahin, dass bei zukünftigen Wahlen Fragen der Gerechtigkeit, Chancengleichheit wesentlich stärker thematisiert als vor fünf oder zehn Jahren.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de